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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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Panikattacken? Erst jetzt fiel ihr ein, dass Lydia ihr schon vor Wochen erzählt hatte, dass sie keine Straßenbahn mehr besteigen könne, dass sie auf Plätzen Herzrasen und Schweißausbrüche bekomme, wenn sich viele Menschen um sie drängten. Auch wusste sie, dass ihre Tochter große Angst vor der Zukunft hatte, vor Arbeitslosigkeit und sozialem Elend. Dabei hatte sie doch gerade erst ihre Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin mit Bravour bestanden und war 26 Jahre jung. Nur etwas mehr Biss bräuchte sie, fand die Mutter.
    Immer war sie gut in der Schule gewesen. Doch kurz vor dem Abitur hatte sie alles hingeschmissen. Die Lehrer hatten auf sie eingeredet, die Mutter und der Stiefvater, ein erfolgreicher Architekt. Dann der Morgen, an dem Lydia nach einem schweren Zerwürfnis die Wohnungstür hinter sich zugeknallt hatte. Sie lasse sich nichts mehr vorschreiben. Die Mutter habe ihr keine Luft zum Atmen gelassen, ihr alles verboten, was andere durften, sie zum Lernen gezwungen, während ihre Freundinnen sich amüsierten – mit diesen Vorwürfen hatte sie sich damals konfrontiert gesehen.
    Danach hatte sie lange nichts mehr von Lydia gehört, nicht mal bei ihrem geliebten Bruder Robin hatte sie sich gemeldet.
    Nach drei Jahren hatte Lydia dann plötzlich wieder vor der Tür gestanden, an der Hand ein dunkelhaariger junger Mann, und hatte gesagt: »Fragt nicht, was war, jetzt bin ich wieder da.« Und: »Das ist Dariusz, wir sind ein Paar.« Seither hatten Mutter und Tochter sporadischen Kontakt. Aber ihr Verhältnis blieb schwierig, oft herrschte Schweigen zwischen ihnen.

    Am Sonntagvormittag, zwei Tage nach ihrem ersten Zusammenbruch, schien Lydia wieder wohlauf zu sein. Mutter und Tochter gingen spazieren, Lydia aß nur wenig. Dann hielten beide einen Mittagsschlaf, die Mutter lag neben der Tochter. Um 15 Uhr bäumte sich Lydias Körper auf, ihre Arme und Beine begannen zu zucken, Schaum trat ihr vor den Mund. Als der Krampfanfall vorbei war, blieb sie regungslos liegen und schnarchte. Die Mutter rief den Notarzt.
Amtsgericht (…)       22. 06. 2005
Beschluss
in der Unterbringungssache
betreffend
Lydia Schneider, geboren am (…)
wohnhaft(…)
zur Zeit Städtisches Klinikum Neurol.-Psych. Klinik (…)

wird die Unterbringung der Betroffenen in einer geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses durch einstweilige Anordnung längstens bis zum 2. 8. 2005 angeordnet.
Die Entscheidung ist sofort wirksam.
Die Bestellung eines Verfahrenspflegers bleibt vorbehalten.
    Es war entwürdigend. Die Mutter und Robin mussten an einer Tür klingeln, ihre Ausweise vorzeigen, in einem engen Wartezimmer Platz nehmen und warten, bis Lydia von einem Pfleger vorgeführt wurde.
    Wie ein Stück Vieh, dachte Robin. Er quälte sich mit Schuldgefühlen. Vielleicht lag es an ihm, dass das alles jetzt passierte? Erst ein halbes Jahr zuvor hatte er drei Monate in der Psychiatrie verbracht, nachdem er sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Aha, bei dem Bruder ist ja alles klar, mochten die Ärzte sich gedacht haben. Vielleicht war Lydia ja sogar wegen ihm zusammengebrochen, eine späte Stressreaktion. Seine psychische Krise hatte sie damals sehr mitgenommen, wusste er. Ihr Verhältnis war eng. Als er klein gewesen war, hatte sie sich um ihn wie eine zweite Mutter gekümmert.
    Sie habe nachts randaliert, das Pflegepersonal angegriffen, es habe keinen Weg vorbei an Zwangsmaßnahmen gegeben, hatte die Ärztin ihnen erklärt. Als Lydia hereinkam, sah Robin sofort, dass sie unter Neuroleptika stand. Wächserne Gesichtszüge, beim Gehen hielt sie die Arme steif am Körper. Das rechte Bein zog sie nach. Warum? Der Pfleger wusste keine Antwort. Zu dritt spazierten sie durch den Park, setzten sich in die Cafeteria. »Was starrst du mich so aggressiv an?«, fuhr sie Robin unvermittelt an. »Was wollt ihr alle von mir, warum bin ich hier?« Es war das letzte Mal für lange Zeit, dass er ihre Stimme hörte. Nur wenige Tage später zog Robin nach Berlin. Schauspielschule, sein Traum. Allmählich bekam er sein Leben in den Griff, während das seiner Schwester zerfiel.

    Als die Mutter Lydias Wohnungstür aufschloss, schlug ihr der Geruch von Schimmel entgegen. Der Boden im Schlafzimmer war übersät von Slips, Hosen, T-Shirts, nicht zu erkennen, was sauber war und was schmutzig, dazwischen ungeöffnete Briefe und lose Blätter, Gläser, in denen kleine grüne Inseln schwammen. In der Küche stapelten sich auf Tisch und

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