Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
an die Uniklinik verlegen.«
Die Universitätsklinik war eine Autostunde entfernt in einer anderen Stadt. Lydia lag dort zweieinhalb weitere Monate. Die Ärzte entnahmen wieder Nervenwasser am Rückenmark und suchten jetzt auch nach exotischen Erregern wie dem West-Nil-Virus oder dem Japan-B-Virus – Auslöser von Krankheiten, die durch Stechmücken von Vögeln und Säugetieren auf den Menschen übertragen werden und mitunter schwere unklare neurologische Symptome verursachen, aber in Deutschland exotische Ausnahmen sind, importiert von Touristen und Geschäftsreisenden aus Afrika, den USA oder osteuropäischen Ländern. Lydia bekam fünf Medikamente gegen Epilepsie gleichzeitig, trotzdem hörten ihre Anfälle nicht auf. Ihr Gehirn stand unter einem Dauerfeuer unkontrollierbarer elektrischer Entladungen von Nervenzellen, nur noch selten kam sie zu Bewusstsein. In ihrer Ratlosigkeit versetzten die Ärzte sie schließlich in ein künstliches Koma, die Ultima Ratio der Epilepsiebehandlung.
So sah die Mutter sie, beatmet, die Augen geschlossen, schlaffe Hände, Schläuche, die aus allen Körperöffnungen ragten. Sie glaubte, mit ihrer Tochter gehe es zu Ende.
An Tag 41 bat sie der Chefarzt zu einem Gespräch, ein väterlicher Mann Ende 50 mit grauem Bart und warmem, festem Händedruck. »Die Therapien schlagen noch nicht so an, wie wir uns das wünschen, aber eine gute Nachricht habe ich schon mal für Sie«, sagte er. Lydia habe keine Entzündung der Adern, ihr Gehirn sei höchstwahrscheinlich vom Epstein-Barr-Virus infiziert – dem Erreger des Pfeiffer’schen Drüsenfiebers also, an dem häufig Kinder erkranken und an dem sich ein Großteil aller Menschen irgendwann ansteckt, viele, ohne Symptome zu entwickeln. Das Virus nistet sich lebenslang im Körper ein und wird mit einer Vielzahl von Erkrankungen in Verbindung gebracht, darunter das Chronische Erschöpfungssyndrom, verschiedene Krebs- und Autoimmunkrankheiten. Jetzt würde Lydia mit speziellen Antivirenmitteln behandelt, er sei optimistisch, dass diese anschlügen.
»Heißt das, meine Tochter wird wieder ganz gesund?«, fragte die Mutter.
Das könne niemand vorhersehen, sagte der Chefarzt. Falls ja, könne es viele Jahre dauern.
17. August 2005 (Tag 63)
Tagebucheintrag des Stiefvaters:
»Telefonat 12 Uhr mit Arzt: Einzig positiv Nachlassen der Krämpfe. Sonst unverändert. Nochmals neue Infektionen, dadurch erhöhtes Sterberisiko. Wenn kein Erwachen aus Koma: dauernder Pflegefall.«
Amtsgericht (…)
-Vormundschaftsgericht – 30. 8. 2005
In der Betreuungssache für Frau
Lydia Schneider, geboren am (…)
Betreuerin:
Hannelore Schneider
wird durch einstweilige Anordnung der Aufgabenkreis der Betreuerin erweitert. Er umfasst künftig:
sämtliche Angelegenheiten einschließlich Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post.
Die vorläufige Erweiterung der Betreuung endet am 1. 1. 2006
6. September 2005 (Tag 83)
Tagebucheintrag des Stiefvaters:
»Ausführliche Beratung mit Prof. (…). Würdevolles Sterbenlassen erörtert, Abschalten der medizinischen Geräte diskutiert. Auf 3 Wochen Weiterbehandlung geeinigt, danach Übergabe an Heimpflege, wenn keine Besserung erkennbar.«
Ein halbes Jahr nach dem Zusammenbruch schöpften die Mutter, der Stiefvater und Robin das erste Mal Hoffnung, dass Lydia eines Tages wieder sie selbst sein würde. Nach ihrem Aufenthalt an der Uniklinik war sie in eine moderne Rehaklinik verlegt worden, umgeben von Hügeln und Wäldern, wo Krankengymnasten, Psychologen, Ergo- und Sprachtherapeuten täglich viele Stunden mit ihr trainierten. Sie saß in einem Rollstuhl mit Kopfstütze, ihr immer noch volles langes braunes Haar ließ den Kopf mächtig erscheinen im Vergleich zu ihrem in sich zusammengesunkenen Oberkörper mit den spitzen Knien und dürren Armen, die sie mitunter in grotesk anmutenden Bewegungen verdrehte. Manchmal schmatzte sie, ihre Kinnmuskeln zuckten, ihre Zunge schoss unvermittelt heraus. Es gab erste lichte Momente. Nach einem Monat in der Klinik unterstrich der Stiefvater im Tagebuch die Worte: »Nach Aufwachen (14.30 Uhr) über das ganze Gesicht gestrahlt. Hannelore erkannt und sich gefreut.« Bald begann sie selbständig zu schlucken und zu essen, in Büchern zu blättern. Sie schaffte jetzt Gehstrecken von 100 Metern ohne Stütze. Doch ihr Zustand schwankte, manchmal wirkte sie schläfrig, kaum erweckbar, dann wieder panisch oder aggressiv, sie kratzte, kniff, klammerte und warf mit
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