Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Gläsern nach ihren Mitpatienten. Einmal verhinderte ein Pfleger gerade noch, dass sie aus dem Fenster sprang.
Gerade diese raschen Wechsel von Bewusstseins- und Stimmungsschwankungen waren typisch für jene rätselhafte Gehirnerkrankung, die erst viel später an ihr diagnostiziert werden sollte.
Zu jener Zeit ahnte nur ein einziger Mediziner, ein aus Barcelona stammender Arzt in den USA, dass es sie überhaupt gab. Er forschte seit zwei Jahrzehnten über die Ursachen von Gehirnentzündungen. Gerade bereitete er eine Publikation über ein neuartiges Krankheitsbild vor, das er entdeckt hatte.
Den nichtsahnenden Ärzten der Rehaklinik jedoch blieb Lydia Schneider ein Rätsel, und ihre Unberechenbarkeit überforderte sie. »Nach abgeschlossener neurologischer Therapie«, hieß es im Arztbrief, kam Lydia auf die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik. Mit Gurten am Bett fixiert in einem düsteren, kahlen Zimmer ohne Tisch und Stuhl, mal lethargisch, mal sich aggressiv aufbäumend. In den Zwischenberichten an das Amtsgericht ist auch von »sexueller Enthemmtheit« die Rede, sie soll vor dem Pflegepersonal onaniert haben. »Das kann nicht sein, die lügen, um ihre Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen«, wütete die Mutter.
Die Ärztinnen und das Pflegepersonal brachten ihnen offenes Misstrauen entgegen. Mittlerweile galt die Mutter als »schwierig«.
Die Klinik war eine Endstation, wo Menschen verwaltet wurden, die anderswo nicht mehr unterkamen, so beschreibt es ein ehemaliger Mitarbeiter. Die Pflegesätze waren niedrig, es gab kein Geld für umfangreiche Diagnostik und experimentelle Therapien. Die Mutter verstand nicht, warum sich niemand mehr für die Ursache der Krankheit interessierte, die im letzten Arztbrief nur noch »Enzephalitis unklarer Genese« hieß – Gehirnentzündung unklarer Ursache.
Und doch machte Lydia Fortschritte. Sie begann einzelne Wörter hervorzustoßen, verschlang gierig Riesenpizzen, wenn sie zusammen in die einzige Dorfwirtschaft gingen, legte an Gewicht zu, kam zu Kräften. Eines Tages nahm sie in der Cafeteria ein Bilderbuch zur Hand und las der Mutter in stammelnden Worten vor – ein Pfleger im Gang machte auf dem Fuß kehrt und blieb staunend in der Tür stehen.
So verließ Lydia genau ein Jahr nach ihrem Zusammenbruch die Endstation Psychiatrie und kam wieder in eine Rehaklinik. Plötzlich machte sie rasende, für jeden sichtbare Fortschritte. Tag für Tag erkämpfte sich ihr neu erwachter Geist seinen Weg zurück in den Körper.
Auch diese Möglichkeit einer Ausheilung ohne spezifische Therapie war typisch für jene Krankheit, die der katalanische Arzt erforschte. Doch er hatte sie noch nicht publiziert, trug immer noch Daten zusammen.
»Wie soll es mir gehen?
Es geht. Ich habe selten Besuch und
es unterscheidet sich kaum
vom offen zum geschlossen
Station. Aber vorne
fühle ich mich besser und
am besten ist es zu Hause
Aber dort habe meine Arbeit
nicht mehr. Das macht traurig.
Und meine Wohnung werde ich
auch nicht mehr haben weil
Alle sagen, daß sie zu groß und
teuer sei. Aber hier im
geschlossen Bereich wird
ständig für ausreichend Trinken
gesorgt.«
Lydia Schneider, Tagebucheintrag vom 9. Juli 2006
(nach einem Jahr und 25 Tagen – in sauberer Handschrift)
Einzelfallberichte über Patienten haben in der medizinischen Forschung normalerweise einen sehr geringen Stellenwert. Renommierte Fachzeitschriften weigern sich oft, sie für eine Publikation in Erwägung zu ziehen – haben diese Redaktionen doch große Studien mit spektakulären Thesen und Ergebnissen als Alternativen zur Auswahl, die besser geeignet sind, das eigene Ansehen zu steigern.
Und doch schreiben immer wieder jene verschmähten Einzelfallberichte Medizingeschichte. Eines der berühmtesten Beispiele ist Alois Alzheimers Tübinger Vortrag im Jahr 1906 über seine Patientin Auguste Deter, die im Alter von 51 Jahren verwirrt an seiner Klinik aufgenommen worden war und fünf Jahre später in geistiger Umnachtung verstarb. Auf der Tagung in Tübingen behauptete er, sie habe an einem eigenständigen Krankheitsbild gelitten. Später wurde die Erkrankung Alzheimer-Demenz genannt, und die Wissenschaftler gingen lange Zeit davon aus, dass sie nur selten vorkomme.
Es sollten noch 70 Jahre vergehen, bis die Hollywood-Schauspielerin Rita Hayworth daran erkrankte. Ein Foto, das sie verwirrt, ängstlich und mit strähnigen Haaren zeigte, ging um die Welt und machte die Erkrankung schlagartig
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