Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Herd Kochtöpfe und Teller mit eingetrockneten Essensresten, der Aschenbecher quoll über, die Lebensmittel im Kühlschrank waren von Schimmelteppichen überwachsen. Kein Licht. Später erfuhr die Familie, dass die Stadtwerke Lydia schon einen Monat zuvor den Strom abgestellt hatten.
Entgeistert blickte die Mutter ihren Lebensgefährten Robert an, der sich für ihre Kinder verantwortlich fühlte wie ein Vater: »Was in Gottes Namen ist nur in unser Mädchen gefahren?« Sie würden die Wohnung auflösen und alles von Wert auf unbestimmte Zeit in einer Garage einlagern. Wann ihre Tochter wieder ein eigenständiges Leben würde führen können, war ungewiss – das hatten die Ärzte ihnen schon unmissverständlich klargemacht.
Doch woran sie litt, sagte ihnen niemand. In den vergangenen Tagen hatte sich ihr Zustand weiter rapide verschlechtert. Lydia habe nachts wild um sich geschlagen, Käfer an den Zimmerwänden gesehen und vor Panik geschrien, erzählte die Ärztin. Symptome, die für eine Schizophrenie sprachen. Sie hatten sie mit Gurten um Füße, Hände und Bauch festgeschnallt und mit Psychopharmaka ruhiggestellt.
Nach fünf Tagen war sie auf die Neurologie verlegt worden: »Ihre Tochter hätte niemals in der Psychiatrie landen dürfen«, entschuldigte sich die Ärztin. Denn da hatte schon jener Befund vorgelegen, der nicht zu einer Angststörung oder Schizophrenie passte. Im Nervenwasser, welches das Rückenmark umfließt, schwammen viele weiße Blutkörperchen, außerdem fanden sich oligoklonale Banden – Antikörper, die sich gegen einen noch unbekannten Gegner richteten. Eine Hirnhautentzündung? Oder gar eine Entzündung des ganzen Gehirns? Doch es wurden keine Bakterien oder Viren gefunden.
Wer war der Feind, der Lydias Gehirn angriff? Die Neurologen suchten weiter, setzten ihr eine Kappe mit Elektroden auf, leiteten die Hirnströme ab und stellten »schwere Allgemeinveränderungen« fest, was nur widerspiegelte, was jeder wusste: dass sie am Gehirn erkrankt war. Sie durchleuchteten ihren Kopf, fanden unsichere Anzeichen für einen kleinen Schlaganfall. Eine Kontrastmitteluntersuchung ergab grenzwertig verengte Adern, was für eine Entzündung der Blutgefäße sprach. Am Ende aber wollte sich niemand auf eine Diagnose festlegen.
Wenn Ärzte den Feind nicht kennen, behandeln sie auf Verdacht, was sie »ex juvantibus« nennen. Solche ins Blinde gerichtete Therapien können manchmal durchschlagende Erfolge erzielen. Antivirenmittel können ein Virus bekämpfen, das nicht gefunden wird, weil keiner danach gesucht hat. Gleiches gilt für Breitbandantibiotika gegen Bakterien und für Medikamente, die Pilzerkrankungen bekämpfen. Kortison richtet sich gegen ein überschießendes Immunsystem, das die Adern des Gehirns geschädigt hat – manchmal hilft es auch, ohne dass es dafür eine Erklärung gibt.
Bei Lydia versuchten die Ärzte nacheinander alles, doch ihr Zustand verschlechterte sich weiter. Innerhalb weniger Tage verlor sie ihre Sprache, erkannte die Mutter nicht mehr, rollte in stummer Panik mit den Augen, rüttelte an den Gurten und presste den Mund zusammen, wenn eine Schwester sie füttern wollte. Magensonde, künstliche Ernährung. An Tag neun notierte der Stiefvater, der mittlerweile ein Krankentagebuch führte: »Lach- und Weinkrämpfe im Wechsel«.
An Tag 14 baten zwei Neurologen ihn und die Mutter zu einem Gespräch. Sie wollten Lydia am Gehirn operieren, sagten sie, Hirngewebe entnehmen, um die Diagnose einer Entzündung der Adern zu sichern. Dann könnten sie eine Chemotherapie beginnen, die das körpereigene Immunsystem stärker unterdrücken würde als Kortison. Danach sprachen sie nur noch von Risiken: Gehirnblutung, falls sie mit der Biopsienadel unabsichtlich eine Ader öffneten. Schwere Infektionen, falls sich trotz Hygienemaßnahmen ein Keim ins Gehirn verirren würde. Und die Chemotherapie berge die Gefahr, dass Lydia später keine Kinder mehr bekommen könne.
»Nein!«, rief die Mutter laut dazwischen. Sie war entsetzt. »Es muss auch ohne solche Maßnahmen gehen!«
Tag 17, Gesprächstermin beim Chefarzt persönlich, einem Professor, der zuvor nie Zeit gehabt hatte. Er versuchte, sie noch einmal zur Gehirnbiopsie zu überreden. »Wir müssen Gewissheit haben, sonst können wir das Risiko einer Therapie nicht eingehen«, erklärte er eindringlich.
Doch die Mutter hatte sich schon anderweitig kundig gemacht. »Ich vertraue Ihnen nicht mehr. Ich will, dass Sie meine Tochter
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