Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
2005 vorhanden gewesen waren.
In den Arztbrief diktierte er also »vorbekannt« und kümmerte sich nicht weiter darum – zwei Prozent aller Gesunden hatten diese Auffälligkeit im Nervenwasser. Und er wagte eine Diagnose, die noch keiner zuvor gestellt hatte: Verdacht auf dissoziative Störung (der neueste unter vielen Fachbegriffen für das Phänomen der Hysterie) und fühlte sich mutig, so klare Worte bei dieser komplexen Vorerkrankung gefunden zu haben. Dabei ließ er bewusst offen, ob die neuen Symptome ursächlich mit der früheren Gehirnentzündung zusammenhingen oder nicht. Nach elf Tagen überwies er Lydia zurück auf die Psychiatrie, die sollten sich weiter um die Frau kümmern. Doch tief in ihm keimte da schon ein ungutes Gefühl.
Im Frühsommer 2009 passierten zwei Dinge: Eine Grande Dame der Neurowissenschaften aus Oxford hielt an der Charité einen Vortrag. Sie wies auf ein neues Krankheitsbild hin, das der US-Neurologe Josep Dalmau erst kürzlich identifiziert hatte – die NMDA-Rezeptor-Autoantikörper-seropositive Enzephalitis. Prüß hatte davon gelesen, aber man las so viel. Jetzt war er elektrisiert. Das zweite Ereignis war die Einweisung eines 22-jährigen Mädchens mit Halluzinationen, Panikattacken und epileptischen Anfällen, die innerhalb weniger Tage in einen komaartigen Zustand fiel, wieder wach wurde, dann erneut das Bewusstsein verlor. Dieser rasche Wechsel des klinischen Bildes, der zu keiner bislang bekannten Krankheit so richtig passte: stark fluktuierende neuropsychiatrische Defizite. Das war Dalmaus neue Krankheit. Da fiel es Prüß wie Schuppen von den Augen!
Dann begann sein Herz zu pochen. Wie hieß nur diese andere Patientin? Fieberhaft durchsuchte er die abgelegten Arztbriefe der Neurointensivstation, Hunderte waren es. Dann las er »Dissoziative Störung« – Lydia Schneider, er hatte sie! »Schubförmiger Verlauf«, hatte Dalmau geschrieben. 2005 der erste Schub, im vergangenen Jahr dann der zweite.
Fragen schossen Harald Prüß in Sekundenschnelle durch den Kopf. Hatte er damals ihr Nervenwasser eingefroren? Und falls ja – hatten die Laboranten es aufgehoben oder, was sie regelmäßig taten, schon entsorgt? Und falls ja – lebte sie noch? Und falls ja – würde er sie finden? »Derzeit ohne festen Wohnsitz«, stand im Arztbrief.
Nie zuvor war sein Beruf so aufregend gewesen. Sein Glück war groß, die Probe war da. Noch am selben Tag ging das Röhrchen nach Lübeck zu Deutschlands einzigem Speziallabor, das den patentierten Suchtest schon anbot, zusammen mit einem weiteren Röhrchen, das Nervenwasser seiner anderen Patientin.
Dort pipettierte ein Laborant jeweils einen Tropfen davon auf die Gehirnsubstanz einer Ratte. Zwei Stunden warten, dann Kontrolle: positiv! Das bedeutete: Antikörper im Nervenwasser der beiden Frauen griffen das Gehirn der Ratte an. An den Zelloberflächen der Rattenhirn-Neuronen waren bestimmte Andockstellen, die so in ihrer Funktion gestört wurden – die NMDA-Rezeptoren. All die seltsamen Symptome, unter denen Lydia Schneider und die aktuelle Patientin litten, waren wahrscheinlich Folgen dieser Attacke aufs Gehirn. Der Beweis war erbracht. Neue Diagnose für Lydia Schneider: NMDA-Rezeptor-Autoantikörperseropositive Enzephalitis.
Was für ein Unwort, wie sollte man das Angehörigen begreiflich machen, dachte Prüß. Am Abend telefonierte er mit seinen Eltern, beide Akademiker, doch auch sie hatten Schwierigkeiten, alles zu verstehen.
»Ein neuer Antikörper also …«, wiederholte seine Mutter langsam. »Aber was ist daran jetzt so spektakulär?«
»Mama! Das bedeutet, in Deutschlands Krankenhäusern und Pflegeheimen dämmern möglicherweise viele Patienten vor sich hin, die wir bisher vergeblich mit Psychopharmaka oder Antiepileptika behandelt haben, ohne dass das wirklich geholfen hat. Jetzt können wir an die Ursachen gehen …!«
Von: Bamborschke, Stephan
Gesendet: Freitag, 3. Juli 2009 15:42
An: (…)
Betreff: Frau Lydia Schneider
Hallo liebe Mitstreiter!
Es gibt neue Aspekte zur Erkrankung von Frau Schneider. (…)
Deshalb soll Frau Schneider noch mal in der Charité Mitte Neurologie für einige Tage stationär untersucht werden (Liquorentnahme, ggf. Ganzkörper-PET). Wenn sich die Diagnose NMDAR-Enzephalitis bestätigen würde, könnte man Frau Schneider durch eine spezielle Behandlung (Blutwäsche oder immunologisch wirksame Medikamente) unter Umständen zu einer wesentlichen Besserung der psychotischen Symptome,
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