Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Weiterbildungszeit zum Neurologen an der Charité, als er Lydia am 17. Juli 2008 – drei Jahre nach ihrem ersten Zusammenbruch – in erneut komatösem Zustand auf die Neurologische Intensivstation der Charité aufnahm.
Mit seinen ordentlich gescheitelten Haaren und gebügelten Hemden entsprach er ganz dem Schwiegersohnideal. Im Studium war er ein »Überflieger« gewesen – Bestnote in allen drei Staatsexamina, Gesamtnote 1,0, kaum je von einem Medizinstudenten erreicht. Promoviert hatte er mit Auszeichnung in der Neuroanatomie, trotzdem hatte es nicht gleich mit der Traumstelle an der Charité geklappt. Da überredete ihn ein Studienkollege zu einem Abenteuer, das ihn nachhaltig prägen sollte: Sie flogen zu dritt nach Nordkanada, bauten ein Floß aus Baumstämmen und ließen sich über die großen Flüsse bis nach Alaska treiben. Bei der Planung hatten sie sich verschätzt, der Proviant ging ihnen aus, sie verhungerten fast und wurden in einem namenlosen Dorf von Inuit aufgepäppelt.
Später wunderte sich Prüß über die Naivität, mit der er sich damals auf die Reise eingelassen hatte, ganz vertrauend auf die Erfahrung der beiden anderen. Das Unbekannte hatte ihn damals so gereizt, dass er alle Vernunft hatte fahren lassen.
Seither gilt ihm eine warme Dusche als großer Luxus, Statussymbole wie ein Sportwagen oder eine Golfclub-Jahreskarte interessieren ihn nicht mehr. Er fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit, setzt sich Freitagabend ins Auto und fährt aufs mecklenburgische Land, wo seine Eltern wohnen, holt sein Jagdgewehr und geht in den Wald. Er braucht die einsamen Stunden in der Natur. Das Unbekannte sucht er jetzt nicht mehr in der Ferne, sondern in der Neurologie, die für ihn schon immer das faszinierendste und rätselhafteste aller medizinischen Fachgebiete war.
Prüß kniff Lydia ins Ohrläppchen. Sie regte sich nicht. »Keine Reaktion auf Schmerzreize«, kreuzte er an – tiefes Koma also. Aus den beiliegenden Krankenunterlagen ging eine Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser hervor, die schon zwei Monate währte. Epilepsieartige Anfälle, Panikattacken, Halluzinationen, wechselnde Bewusstseinszustände, alles las sich genauso wie in den alten Arztbriefen aus dem Jahr 2005. Die Ärzte der anderen Kliniken tappten im Dunkeln, waren sich nur einig: Die Gehirnentzündung von damals konnte nicht die Ursache für den jetzigen Zustand der Patientin sein. Prüß sollte seine Einschätzung im Namen der Charité abgeben. Was sollte er hier noch tun? Dieser Fall war ausdiagnostiziert! Ungefähr fünf Prozent aller Patienten mit Gehirnentzündung, die an die Charité kamen, mussten hinnehmen, dass die Ursache für alle Zeit unklar bleiben würde.
Am nächsten Morgen berichteten die Intensivschwestern vom Nachtdienst Seltsames. Lydia sei erwacht, habe sich unruhig im Bett hin und her geworfen und versucht, sich die Schläuche zu ziehen. Jetzt, am Morgen, lag sie wieder in einem scheinbar tiefen Koma. »Das gibt es doch gar nicht«, empörte sich ein Pfleger: »Die soll mal zurück auf die Psychiatrie, wo sie hergekommen ist.« Die Stimmung war gespannt.
Bei seiner nächsten Nachuntersuchung blieb Prüß eine halbe Stunde am Bett. Da befolgte sie plötzlich einfache Anweisungen wie »Heben Sie die Hand« oder »Strecken Sie die Zunge raus«. Als er ein weiteres Mal länger blieb, vermochte sie sogar, von ihm gestützt, den Gang entlangzugehen. »Bei Zuwendung responsiv«, notierte er, was bedeutete: Sie reagierte, wenn sie Aufmerksamkeit bekam. Was Psychisches also? Ihre seltsamen Bewegungsstörungen sprachen auch dafür, diese manierierten Verdrehungen der Arme, das Überstrecken der Wirbelsäule, fast ein »Arc de cercle« (Kreisbogen) – jenes berühmte Symptom der Hysterie, das der große Übervater der Neurologie aus Paris, Jean-Martin Charcot, im ausgehenden 19. Jahrhundert erstmals beschrieben hatte. Charcots bekanntester Schüler Sigmund Freud hätte wohl gesagt: ein Fall für die Psychoanalyse. Auch Geschlecht und Alter von Lydia passten dazu!
Um alle anderen denkbaren Ursachen auszuschließen, veranlasste Prüß noch einige Routineuntersuchungen und entdeckte nur einen einzigen auffälligen Befund: »Oligoklonale Banden« im Nervenwasser. Wieder eine Entzündung? Ein Virus? Nun hätte er entscheiden können, nach allen denkbaren Krankheitserregern zu fahnden. Doch er wollte es abkürzen. Sein Urteil war bereits gefällt, denn in den Unterlagen entdeckte er, dass diese Antikörper schon
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