Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
weltbekannt. Heute gilt Morbus Alzheimer als häufigste Gehirnerkrankung.
Im Mai des Jahres 2007 erwartete der aus Barcelona stammende US-Neurologe Josep Dalmau nur geringe Resonanz auf seinen Fallbericht »A patient with encephalitis associated with NMDA receptor antibodies«, weil er die Skepsis seiner Fachkollegen gegenüber Einzelfallberichten nur zu gut kannte. Die junge Frau, um die es ging, hatte er 2002 mit Panikattacken, Wahnvorstellungen und epileptischen Anfällen an der Universitätsklinik Pennsylvania aufgenommen, bald darauf war sie ins Koma gefallen. Zwei Jahre hatte er im Labor verbracht, um die Ursache zu finden, die er nun in der Publikation beschrieb.
Er war maßlos überrascht, als an den Tagen nach der Veröffentlichung Hunderte E-Mails von Ärzten aus den ganzen USA eingingen, die ihm von ähnlich gelagerten Fällen berichteten und umgehend Blut- und Nervenwasserproben ihrer Patienten schicken wollten. Es war, als hätte er den ersten Fall einer neuen Epidemie beschrieben. Dabei ging er davon aus, dass es die Krankheit schon immer gegeben hatte.
Dank der vielen Proben veröffentlichte Dalmau nur ein Jahr nach seiner Erstbeschreibung eine Studie mit über 100 Patienten, die unter denselben Symptomen litten, im Lancet Neurology – einer der angesehensten neurologischen Fachzeitschriften der Welt.
Im Jahr 2008 ging Lydia der Mutter und ihrem Bruder Robin vorübergehend auf rätselhafte Weise verloren. Zu jener Zeit lebte sie im Fürst-Donnersmarck-Haus, einer von Ärzten geführten Rehabilitationseinrichtung am Rande von Berlin, die weniger war als eine Krankenhaus, aber mehr als ein Pflegeheim. Lydias Mitpatienten hatten Schlaganfälle oder Motorradunfälle hinter sich, schwerste Schäden des Gehirns und Nervensystems davongetragen und wurden von den Krankenkassen als aussichtslos eingestuft. Aus Kosten-Nutzen-Erwägungen wurde ihnen deshalb kein Aufenthalt in einer Rehaklinik mehr gewährt. Diese Menschen landen in Deutschland auf einem sozialen Abstellgleis: Prognose Pflegeheim, lebenslang. Doch wenn ihr Vermögen ganz aufgebraucht und ihre Akte im Sozialamt angelangt ist, eröffnen sich auch neue Chancen, die nur selten genutzt werden. Denn das Sozialamt zahlt, wozu Krankenkassen nach dem Sozialgesetzbuch V nicht mehr verpflichtet sind, und das Fürst-Donnersmarck-Haus hatte sich als eine von wenigen Einrichtungen bundesweit auf jüngere Betroffene spezialisiert, denen eine extensive, mehrjährige Rehabilitation noch zu einem Leben in den eigenen vier Wänden verhelfen konnte.
Hier arbeitete Lydia mit Hilfe von Betreuern, Krankengymnasten und Ergotherapeuten eisern daran, wieder mehr Eigenständigkeit zu erlangen. Sie lernte alles neu: Wäsche waschen, Essen zubereiten, Einkaufslisten erstellen und Taschengeld verwalten. Sie machte große Fortschritte, war auf dem Weg, ganz »die Alte« zu werden, fand die Mutter.
Doch hatte das Amtsgericht sie zu jener Zeit ihrer Pflichten als Betreuerin enthoben. Lydia wurde jetzt von einer Berufsbetreuerin begleitet, die nicht eben viele Informationen weitergab. Bis heute glaubt die Mutter, dass Lydia vom Heimpersonal manipuliert worden sei, doch ihre Tochter selbst erklärt, dass auch ihr ambivalentes Verhältnis zur Mutter schuld am Betreuerwechsel gewesen sei. Zu oft hätten sie sich früher gestritten.
Ihre Kontakte wurden spärlich. Bruder Robin, der immer noch Schauspiel studierte, besuchte sie hin und wieder, sie spielten Memory, gingen spazieren und kochten mit den anderen Heimbewohnern. Aber auch er fühlte sich vom Personal misstrauisch beäugt.
Eines Tages im Juni 2008 war Lydia dann nicht mehr da, und niemand wollte ihm sagen, wo sie hingekommen war. Es sei ihr zunehmend schlechter gegangen, hieß es, man habe sie ins Krankenhaus gebracht. Wohin? Darüber dürften sie keine Auskunft geben, Schweigepflicht. Auch die Berufsbetreuerin sagte nichts – angeblich legte sie auf oder hob gar nicht erst ab, wenn die Mutter oder Robin anriefen.
Robin durchforstete die Gelben Seiten, rief nacheinander in verschiedenen psychiatrischen Krankenhäusern der Stadt an. Eines Tages stand er an der Rezeption des Humboldt-Klinikums in Berlin-Tegel. Ja, sie sei auf der Geschlossenen, sagte der Mann an der Pforte, doch als Robin dort klingelte, beschied ihm ein Pfleger, Lydia sei nicht mehr da. Wohin sie gebracht worden sei, dürfe er nicht sagen.
Harald Prüß war 32, nur ein Jahr älter als Lydia Schneider, und im dritten Jahr seiner
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