Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
der Gedächtnisstörungen und des Anfallsleidens verhelfen. Habe mit Frau Schneider und der gesetzl. Betreuerin Frau (…) gesprochen (…).
(Auszug aus einer E-Mail von Prof. Dr. med. Stephan Bamborschke, Leitender Arzt des Fürst-Donnersmarck-Hauses, der Einrichtung, in der Lydia Schneider damals lebte.)
Es fühlte sich seltsam an für Harald Prüß, als er das erste Mal mit Lydia Schneider sprach. Die Rehaeinrichtung schien gute Arbeit an ihr geleistet zu haben. Sie vermittelte einen völlig anderen Eindruck als ein Jahr zuvor: gepflegt, hellgrüne Augen, mit denen sie ihn aufmerksam anblickte, lockiges schulterlanges Haar, rot gefärbt, auf den ersten Blick eine gesunde – und hübsche! – Frau, die viel lachte.
Allerdings schien sie nicht wirklich zu verstehen, von welcher Tragweite seine Entdeckung für sie sein könnte. Zu seinem Vorschlag sagte sie nur: »Ja, können wir machen«, durchaus freundlich, aber auch gleichgültig, war sein Eindruck.
Durch die Berichte der Heimbetreuer wusste er: Sie war sehr wechselhaft, kämpfte immer noch mit Wahnvorstellungen, Panikattacken und Ängsten vor jeder Veränderung. Ihre bizarren Armbewegungen – die er fälschlicherweise als psychisch bedingt gedeutet hatte – waren noch vorhanden, mitunter erlitt sie epileptisch anmutende Anfälle, gab Mitbewohnern Ohrfeigen oder ging ihnen an die Gurgel, sie schrie und warf Stühle durch die Zimmer.
Als Prüß am nächsten Tag die Ergebnisse der Blut- und Nervenwasseruntersuchungen bekam, war er euphorisch. Hohe Titer von Anti-NMDA-Autoantikörpern. Er konnte – durfte, musste – jetzt therapieren.
Und er konnte nach der Ursache suchen. Warum hatte Lydia Schneiders Immunsystem diese Antikörper überhaupt gebildet? Bei ihrer Leidensgenossin, seiner 22-jährigen Patientin mit den gleichen Symptomen, hatte er einen Tumor in den Eierstöcken gefunden. Die Hälfte aller betroffenen Patienten hatte genau diesen Tumor, oft jahrelang unerkannt. Er rief eine überschießende Immunreaktion hervor, die sich – irregeleitet – auch gegen das eigene Gehirn richtete. Die junge Frau war operiert worden – und jetzt geheilt. Vermutlich würde sie nie wieder einen Schub bekommen.
Bei Lydia Schneider fanden die Gynäkologen keinen Tumor. Die Ursache für die Antikörperbildung würde möglichweise nie ermittelt werden können.
Neben ihrem Bett stand das Gerät für die Blutwäsche, so groß wie eine kleine Kommode. Aus ihrer Halsvene führte ein Schlauch mit Blut dorthin, ein anderer zurück, ein Filter trennte Antikörper vom Blut. Sechs Zyklen, sechs Tage, und dazu eine Therapie mit hochdosiertem Kortison, um das Immunsystem noch stärker zu unterdrücken – das war alles. Sie würde vorübergehend etwas anfälliger sein für Infekte.
Als er sie am 20. Juli 2009 entließ, wusste er nicht, ob es helfen würde. Vier Jahre hatte sie mit der Erkrankung gelebt, wahrscheinlich hatte sie irreversible Schäden am Gehirn erlitten. Nur wenn man die Krankheit schnell erkannte und sofort behandelte, war eine komplette Ausheilung fast sicher. Aber immerhin: Bei der Abschlussuntersuchung waren in Blut und Nervenwasser die gefährlichen Antikörper kaum mehr nachweisbar.
Am 25. Januar 2011 saß Lydia Schneider mit ihrer Mutter vor dem Sonografieraum, eine Mappe mit den aktuellen medizinischen Befunden bei sich, als ein Schreiben zu Boden fiel. Sie hob es auf, überflog die Zeilen, ihr Blick verfinsterte sich. »Lies das, Mama!«
Bezirksamt Berlin Mitte
Abteilung Jugend, Schule und Sport
Jugendamt
Regionale sozialpädagogische Dienste
Bezirksamt Mitte von Berlin, 13341 Berlin
Per Fax
Kindernotdienst (…)
21. 1. 2011
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
Frau Schneider ist schwanger, der errechnete Entbindungstermin ist überschritten und die Klinik (Charité, Campus Virchow) teilte mit, dass Frau Schneider dort vorstellig war, da ggf. die Geburt eingeleitet werden soll.
Die gesetzliche Betreuerin (u.a. auch Gesundheitssorge, Rechts-Antrags- und Behördenangelegenheiten) von Frau Schneider, Frau (…), Tel (…), äußerte hier im Vorfeld schriftlich ihre Sorge darüber, ob Frau Schneider in der Lage sein wird, einen Säugling ordnungsgemäß zu versorgen, da sie aufgrund einer Enzephalitis im Jahre 2005 psychisch erkrankt sei. Sie nehme auch keine Hilfe an und lasse niemanden in die Wohnung. Der Kindesvater ist ebenfalls psychisch erkrankt.
Zwischen dem Sozialdienst des Krankenhauses (…) und Frau
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