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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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Voss wusste auch: Herzen, die lange der Kälte trotzen, beginnen auch in der Aufwärmphase früh wieder zu schlagen.
    Um 16.35 Uhr lag Dominiks Körpertemperatur bei 25 Grad. Der Defibrillator lud sich geräuschlos auf. Voss schaute gebannt auf den Monitor, wann die 360 Joule erreicht sein würden. Dann: Schock! Und: Sinusrhythmus! Dominiks Herz war sofort angesprungen! Im Umkehrschluss: Als er erfroren war, hatte sein Herz lange geschlagen. Vielleicht war er weniger als eine Stunde leblos gewesen, bevor sie ihn gefunden hatten. Plus drei Stunden und 45 Minuten, bevor sein Herz den ersten eigenen Schlag tat. Fast fünf Stunden leblos.
    Voss war sich trotzdem sicher, Dominik würde es schaffen. Nach 220 Minuten notierte eine Krankenschwester in der Kurve: 35 Grad rektal. Die Zieltemperatur.
    Zwei Tage später wurde Dominik im tiefen Koma zurück nach Murnau verlegt.

    Ein Jahr später, Mitte Dezember. Sven Hungerer arbeitet mittlerweile im Klinikum Garmisch-Partenkirchen. Er hat einen langen Abend im OP vor sich, wartet darauf, dass die Schwestern ihn rufen. Durchs Fenster blickt er auf die berühmte Skischanze, die im Licht der untergehenden Sonne rot strahlt. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich die Akten. Er könnte Arztbriefe abzeichnen. Oder aber den Ordner mit den Publikationen durchgehen, die er vor einigen Monaten gesammelt hat. Er will verstehen, was passiert ist. Vielleicht findet er die Antwort in diesem Ordner.
    Unschlüssig beginnt er zu blättern. Es war viel Fleißarbeit gewesen, diese Fallgeschichten aus der großen Anzahl von Publikationen über Unterkühlungen zu selektieren. Patienten mit einer Körpertemperatur von unter 20 Grad, die erfolgreich wiederbelebt wurden. Zwölf Fälle hatte er in der weltweiten Literatur gefunden. Bergsteiger, die in Gletscherspalten gefallen waren. Kinder, die ins Eis eingebrochen waren. Lawinenopfer. Ein 17-Jähriger, der Selbstmord hatte begehen wollen. Würde man eine Rangliste der kältesten erfolgreich wiederblebten Menschen der Welt aufstellen, käme Dominik Ziegler nur auf Platz drei.
    Auf Platz eins rangierte die schwedische Ärztin Anna Bågenholm, 29 Jahre alt. Hungerer beginnt zu lesen. Beim Überqueren eines Bachbetts war sie mit den Skiern eingebrochen und vom reißenden, eiskalten Wasser unter Felsen gezogen wurde. Ihre zwei Freundinnen versuchten sie an den Füßen herauszuziehen, die aus dem Eis ragten. Vergeblich. Nach 40 Minuten hörte die Frau auf zu strampeln. Nach 90 Minuten wurde sie geborgen, die Notärzte maßen 13,7 Grad.
    Sie hatte die gleichen Komplikationen wie Dominik Ziegler gehabt. Lungenödem, Versagen der Blutgerinnung, massives Absterben von Muskelzellen. Die Niere war überfordert gewesen mit dem Ausscheiden des anfallenden Zellmülls. Folge: akutes Nierenversagen. Therapie: Dialyse.
    Doch es gab auch große Unterschiede. Als die Ärztin nach zwei Wochen erwachte, stand ihr Vater am Krankenbett und fragte nach ihrer PIN-Nummer. Sie murmelte die Ziffern. Ihre geistigen Fähigkeiten waren unbeeinträchtigt geblieben. Sie hatte nur neurologische Schäden davongetragen, musste das Laufen wieder lernen. Nach vielen Monaten Reha taugten ihre Hände immer noch nicht zum Operieren, beruflich sattelte sie um von Chirurgie auf Radiologie.
    Dominik hatte deutlich schwerere Hirnschäden erlitten. Sein Erwachen dauerte viele Wochen und glich eher dem eines Menschen, der in kleinen Schritten aus dem Wachkoma zurückkommt. Nach zehn Tagen öffnete er die Augen, aber sein Blick verlor sich im Nichts.
    Hungerer betrachtet ein Video der Klinik, das er auf seinem Computer abgespeichert hat. Tag 19 nach der Wiederbelebung. Er sieht Dominik im Rollstuhl, eingepackt in eine Decke, apathischer Blick, wächserne Gesichtszüge. Der Vater hat Dominiks Hund an der Leine, der an seinem Herrchen hochspringt, versucht, sein Gesicht zu lecken. Doch in den Augen des Jungen ist kein Erkennen, noch nicht einmal Freude. Der Hund scheint es zu spüren. Er will seine Pfoten vom Schoß nehmen, der Vater aber lässt es nicht zu. Er drückt die Schnauze des widerspenstigen Hundes in Dominiks Hände, doch der Hund wendet den Kopf ab, sobald er dem Griff auskommt.
    Hungerer war damals nicht mehr zuständig für Dominik, der auf der Intensivstation lag. Aber er kam vorbei, wann immer er konnte, nahm an den Morgenvisiten teil und beobachtete, wie Dominik in den kommenden Wochen jeden Tag einen neuen Meilenstein bewältigte. Bald bewegte er Beine und Arme, folgte mit

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