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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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dem Blick den Menschen um ihn herum, gehorchte einfachen Anweisungen, lächelte zurück, wenn man ihn anlächelte. Er schien die Entwicklung vom Baby zum Kind erneut und im Zeitraffer durchzumachen. An Tag 30 wurde er auf die Station für Frührehabilitation im Haus verlegt. Alle waren damals überaus optimistisch. Hungerer sah ihn noch einmal aus der Ferne im Rollstuhl auf dem Gang.
    Damals hatte er innerlich mit dem Fall abgeschlossen. Alles war richtig gewesen. Noch ein halbes Jahr, vielleicht ein Jahr, dann könnte der Junge wieder ein selbständiges Leben führen.
    Dann Tag 54. Hungerer hatte Spätdienst. Ein Neurologe funkte ihn als Konsiliar an, berichtete von einem Patienten mit Bauchschmerzen, der sich am Abend erbrochen hatte, wollte allgemeine Empfehlungen aus chirurgischer Sicht. Hungerer bot an vorbeizukommen, doch das befand der Kollege für unnötig. Ein alltägliches Vorkommnis. Hätte Hungerer gewusst, dass es sich um Dominik Ziegler handelte, hätte er ihn sicher selbst untersucht. Doch vielleicht hätte auch er nicht sehen können, was sich zu jenem Zeitpunkt in Dominiks Bauch abspielte. Keiner konnte das ahnen.
    Hungerer holt sich die CT-Bilder auf seinen Computerbildschirm, angefertigt damals am nächsten Morgen. Dominiks Bauch sieht aus, als wäre darin eine Streubombe explodiert. Überall große schwarze Löcher. Luft im Bauch. Der Darm musste ein Leck haben, hatten damals die Ärzte gefolgert.
    Der Operationsbericht, OP-Beginn 11.42 Uhr, OP-Dauer 29 Minuten. Bei der Eröffnung des Bauches entleeren sich sofort zwei Liter stinkende Flüssigkeit, hat der Chirurg notiert. Er ist mit Hungerer befreundet, damals rief er ihn gleich nach der OP an. Dünndarm und Dickdarm waren pechschwarz, erzählte er, komplett abgestorben und in Auflösung begriffen. Die Worte trafen Hungerer wie ein Schlag in die Magengrube.

    Dominik ist immer um sie. Im Esszimmer neben der Küche blickt er die Zieglers von vielen Fotos aus an. Zwei Regale voll. Dominik im Janker, schelmisches Kinderlächeln. Dominik mit Bruder und Schwester – es gab nie so ein Bild, sein Gesicht wurde hinter die Geschwister in den schwarzen Hintergrund fotomontiert, es wirkt geisterhaft verschwommen. Zwischen den Bildern mehrere große Kirchenkerzen mit Aufschriften in roter gotischer Schrift. »Dominik, du fehlst uns so sehr«. Auf der obersten Reihe andere Fotos. Dominik im blauen Krankenhaushemd, der vor sich hinstarrt, einen Schlauch in der Nase. Das Foto des letzten Nachmittags seines Lebens. Dominik liegt im Krankenhausbett, lässige Haltung, die Hände hinterm Kopf verschränkt und schaut fern. »Ein Wissensmagazin, Galileo«, sagt der Vater. »Er hat alles verstanden. Er konnte sprechen, er hat sich an alles erinnert, was wir ihm erzählt haben.« Die Mutter kämpft immer noch mit den Tränen, wenn sie an die letzten Stunden denkt. »Er hat Riesenschritte nach vorn gemacht! Wir haben geglaubt, im Mai wird er die Brauerprüfung machen.«
    Sie waren einfach um acht Uhr abends aus dem Krankenhaus gegangen. Als sie am Morgen wiederkamen, war er intubiert und anästhesiert, ein Arzt bat sie zum Gespräch. Der ältere Bruder kam als Letzter, am späten Vormittag. Er blieb im Türrahmen stehen, als er sie alle sah, fragte, was los sei. »Du musst dich jetzt vom Dominik verabschieden«, sagte die Mutter, Tränen erstickten ihre Stimme. Er wollte nicht verstehen, Dominik lebte doch vor seinen Augen, der Monitor zeigte Blutdruck und Herzschlag. Um 14.40 Uhr dann hörte Dominiks Herz auf zu schlagen. Sie haben bis heute nicht verstanden, woran er gestorben ist.

    Die ischämische Kolitis ist eine nichtinfektiöse Entzündung des Darms, hervorgerufen durch eine diffuse Durchblutungsstörung. Tückischerweise sind die Frühsymptome der ischämischen Kolitis sehr unspezifisch. Erbrechen, Bauchschmerzen, Krämpfe. Deshalb erkennen die Ärzte sie oft zu spät.
    Bei unterkühlten Patienten tritt sie mitunter als Komplikation auf, zum Beispiel wenn sie zu rasch erwärmt wurden. Aber nur in den ersten Tagen! Warum Dominik an Tag 54 daran erkrankte, blieb für die Ärzte des Unfallklinikums Murnau ein Rätsel. Jeder dort erinnert sich an den Fall, und vielen ist unheimlich, wenn sie davon sprechen. Weil sie es nicht verstehen, und was sie nicht verstehen, können sie auch in Zukunft nicht verhindern.
    Hungerer veröffentlichte die Fallgeschichte von Dominik Ziegler zwei Jahre später. Er diskutiert die möglichen Ursachen auf einer ganzen Seite. Gab

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