Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
dieses Bild. Sandra steht noch im Türrahmen der Anmeldung, hört das Geräusch vieler Schritte, das Piepen von Monitoren, das rhythmische Stampfen einer Beatmungsmaschine. Sie blickt nach draußen auf den Gang. Sie kann keinen Blick auf Dominik auf der Trage erhaschen, er ist umgeben von einer Traube von Menschen in weißen Kitteln, alle rennen. Einer mit roter Jacke, darauf groß die Lettern »Rettungssanitäter«, versucht Schritt zu halten, während er die gestreckten Armen rhythmisch auf Dominiks Brustkorb presst. Was in Gottes Namen ist passiert? Sie haben ihn doch schon vor eineinhalb Stunden gefunden. Erst in diesem Moment versteht sie, dass es um alles geht.
Ein Pfleger reicht ihnen die Adresse, sagt, sie sollten den Ärzten Zeit lassen und erst am Abend nach München fahren.
Um 16.35 Uhr lag Dominik seit etwa einer Stunde im Operationssaal 3 des Deutschen Herzzentrums in München. Der Oberarzt Bernhard Voss, der am frühen Nachmittag mit Murnau telefoniert hatte, legte die beiden Pole des Defibrillators an Dominiks Körper, den einen an seine rechte Schulter, den anderen über das Herz. Bereit für den ersten Elektroschock.
Es war vergleichbar mit der Starthilfe für ein Auto, entweder der Motor kam – oder er kam nicht. Voss hatte in seinem ersten Berufsleben als Kfz-Mechaniker oft Starthilfe gegeben.
Dominiks rechte Leistenvene lag frei, aus ihr floss sein kaltes, sauerstoffarmes Blut in einen durchsichtigen Sammelbehälter, durch eine künstliche Lunge und den Wärmetauscher – eine dicht aufgerollte Rohrspirale, durch die warmes Wasser zirkulierte und das Blut erhitzte, das in parallelen Rohren durch die Spirale floss.
Neben Voss stand der Kardiotechniker, der Spezialist für Herz-Lungen-Maschinen. Unablässig beobachtete er, wie sich Dominiks Körpertemperatur entwickelte, justierte nach, wenn die Aufwärmung zu langsam oder zu rasch erfolgte. Wenn sie zu schnell anstieg, würden die großen Blutgefäße verschlossen bleiben. Gehirn und Darm könnten absterben.
Der Kardiotechniker kannte Tabellen für die Aufwärmung – zwar nicht für diesen Extremfall, aber sie dienten ihm zur Orientierung. Sie schrieben zum Beispiel vor, je kälter das Blut, desto geringer muss die Temperaturdifferenz zum Wasser sein. Der Kardiotechniker hatte mit 20 Grad Wassertemperatur angefangen.
Oberarzt Voss hatte am Telefon Ja gesagt und erst dann überlegt, worauf er sich eingelassen hatte. Seit mehr als zehn Jahren arbeitete er am Deutschen Herzzentrum, aber Patienten mit schweren Unterkühlungen hatte er nur sehr selten erlebt – ein bis zwei Obdachlose jeden Winter, und die waren meist im Alter von über fünfzig, ihre Chancen standen ungleich schlechter als bei einem 17-Jährigen – da wäre die Entscheidung über Leben und Tod leichter zu treffen.
Mehr Erfahrung hatte Voss durch seine herzkranken Patienten. Wenn der operative Eingriff sehr kompliziert war, kühlte er sie auf Temperaturen von bis zu 18 Grad ab. Dann brauchen die Zellen nur noch sehr wenig Sauerstoff. Unter normaler Körpertemperatur treten schon nach drei Minuten Sauerstoffmangel die ersten irreversiblen Gewebeschäden ein. Bei 18 Grad aber kann man eine Stunde gefahrlos operieren. Das gilt allerdings nur unter einer Voraussetzung: die Abkühlung muss sehr rasch erfolgen.
Allein deshalb gab es jene wenigen bekannten Fälle von Wunderrettungen, die Voss nur aus der Literatur kannte. Kinder, die ins Eis einbrachen, nach einer Dreiviertelstunde geborgen und erfolgreich wiederbelebt wurden. Diese Fälle waren vergleichbar mit seinen Herzpatienten – schockgefroren. Anders Dominik, der über mehrere Stunden allmählich abgekühlt war.
Der hohe Alkoholpegel – 1,4 Promille hatten die Ärzte in Murnau gemessen – war zunächst sein Unglück gewesen. Deshalb hatte er die Orientierung verloren und war erschöpft zusammengebrochen. Dann aber, als er regungslos im Schnee lag, kehrte sich dieser Nachteil um in seine einzige Überlebenschance. Er war rasch ausgekühlt, das war gut. Von entscheidender Bedeutung war dabei, wie lange sein Herz noch geschlagen hatte.
Darüber konnte Voss nur spekulieren. Er hatte Patienten gesehen, deren Herz erst bei 25 Grad anfing zu flimmern, wenn er sie in Hypothermie versetzte, andere flimmerten schon bei 30 Grad. Wenn Dominiks Herz lange durchgehalten hatte, dann hatte er auch lange geatmet, seine Zellen hatten ihr überlebenswichtiges Minimum an Sauerstoff bekommen. Dann hatte er eine Chance.
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