Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
es einen Zusammenhang mit bestimmten Bakterien, die der Rechtsmediziner im Darm fand? Spielte die Magensonde eine Rolle, die die Ärzte fünf Tage vor seinem Tod neu gelegt hatten? Nur eines ist sicher, schließt er. Es muss einen Zusammenhang mit der Unterkühlung geben, und Ärzte, die künftig Patienten wie Dominik Ziegler behandelten, sollten dessen gewahr sein. Denn der Teufel schläft nie – noch so ein Leitspruch der Notfallmedizin.
Der Stammtisch im Gasthof bietet Platz für zwölf Jungs. Sie sprechen oft über Dominik, sagt sein Sandkastenfreund Manfred. Aber eigentlich nie darüber, was damals geschehen ist. Es sind die schönen und lustigen Erlebnisse, die jeder mit ihm hatte und von denen sie sich immer wieder erzählen, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. »Das Ganze hat uns noch mehr zusammengeschweißt«, sagt einer am Kopf des Tisches.
Nur selten sprechen sie über jenes Silvester und ihre Suche am nächsten Morgen – dann diskutieren sie wild durcheinander, alles wirkt plötzlich so gegenwärtig, als wäre es gestern gewesen. Die gleichen offenen Fragen wie damals: Wer hat ihn zuletzt gesehen? Hat er jemandem gesagt, wo er hinwollte? Keiner erinnert sich. Aber Dominik sprach irgendwann davon, dass auf einer Nachbarhütte auch eine Party stattfand. Wollte er vielleicht noch dorthin? Aber warum hat er sich verlaufen, obwohl er doch jeden Quadratmeter kennen müsste? Sie verstanden es damals nicht, sie verstehen es bis heute nicht.
»Ich glaube, es muss ein höherer Wille gewesen sein, der ihn abberufen hat«, sagt einer. Sonst könnten so viele dumme Zufälle gar nicht zusammenkommen. Von dem Interviewer, der heute mit am Tisch sitzt, hören sie zum ersten Mal, dass für die Ärzte die Todesursache ein Rätsel ist. »Eben. Ein höherer Wille.«
Sie erinnern sich an den Nachmittag der Beerdigung. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt, dahinter standen die Trauergäste. Dominiks engste Freunde trugen den Sarg zum Grab. Eine Stunde blieben sie mit den Zieglers dort stehen, schwiegen. Über ihren Köpfen wehte ein Sturm, der die Dächer abdeckte, in der Ferne tönte das Martinshorn der Feuerwehr.
Als einer der Freunde bald nach Dominiks Tod die Idee aufbrachte, ein Marterl zu errichten, so wie es im katholischen Bayern üblich ist, wenn ein Freund oder Familienangehöriger auf unnatürliche Weise stirbt, legten alle ihr Geld zusammen. Es steht am Wegesrand, circa 200 Meter von der Fundstelle entfernt. Ein roher Granitfels, darin verankert ein Holzkreuz mit geschnitztem Jesus, handgefertigt aus Österreich. Ein ovales Foto von Dominik, kindliches Lächeln, Lederhosenlatz. »Dominik Ziegler 27. Juli 1990 – 25. Februar 2008.« Alle achten sie darauf, dass das Grablicht immer brennt, und legen Blumen ab, wenn sie vorbeikommen.
Immer wenn sich die Freunde im »Gasthof zur Post« zum Stammtisch treffen, stehen dort im Fenster zwei Maßkrüge, in denen Kerzen brennen. Dominik und sein bester Freund, der Sohn des Wirts. Der ist zwei Jahre später gestorben, Skiunfall, noch an der Unfallstelle. Dass sie am Lebensanfang schon zwei aus ihrer Mitte verloren haben, lässt ihnen den Tod allgegenwärtig erscheinen. »Eines weiß ich jedenfalls, und das tröstet mich«, sagt wieder der am Kopf des Tisches. »Wenn ich mal sterben muss, gibt es da oben zwei, die schon auf mich warten und mit denen ich viel Spaß haben werde.«
Aussatz
A ls Gül drei Monate auf der Welt war, beging ihre Mutter Selbstmord. Ihre Tante, die Schwester der Toten, nahm das Mädchen bei sich auf. Gül erfuhr nichts über ihre Herkunft. Sie nannte ihre Tante »Mama«, ihre Cousinen und der Cousin waren für sie Geschwister. Sie war das Nesthäkchen, ihre Tante hätschelte sie wie ihr eigenes Kind.
Ihr Zuhause lag am Rande eines westanatolischen Dorfes in der Türkei und hatte einen riesigen Garten. Gül tollte mit der zwei Jahre älteren Necla zwischen den Obstbäumen umher. Zur Erntezeit übersäten Quitten, Kirschen und Äpfel den Boden, sie schmeckten unvergleichlich süß und intensiv. Die beiden Mädchen spielten die Spiele, die Kinder auf der ganzen Welt spielen, Verstecken und Seksek – ein Hüpfspiel auf mit Kreide auf den Asphalt gezeichneten Feldern, dessen deutschen Namen »Himmel und Hölle« Gül erst viel später lernen sollte. Es waren die glücklichsten Jahre ihres Lebens.
»Vater« – eigentlich ihr Onkel – lebte zu jener Zeit schon in Deutschland, er arbeitete in einer Motorenfabrik.
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