Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Baumwipfeln krächzten die Krähen, Kinder warfen den Enten im See Brotkrumen zu. Sie sprachen über die Chancen, aber auch über den schlechtestmöglichen Ausgang: »Ich habe Angst, dass ich danach an Geräten hänge und sich mein Sterben nur noch ewig hinauszögert«, sagte Helmke. Scott schloss sie in seine Arme und versprach, er werde nie zulassen, dass sie leide. Er gab ihr die Kraft, die sie brauchte. Er – und die Kinder, die nicht ahnten, wie es um sie stand.
Als sie am nächsten Tag Anthuber ihre Entscheidung mitteilte, hatte der den Eindruck, sie sei fest entschlossen, auch im Angesicht der schlimmsten denkbaren Szenarien. Als er es Jauch erzählte, wischte auch der Oberarzt seine Bedenken beiseite und wandelte sich zu einem Verfechter der Lebertransplantation. Das erwies sich als wichtig für die heiße Diskussion, die sie in der großen Runde durchstehen mussten. Gemeinsam gewannen sie auch Skeptiker für den Plan – einen Heilversuch, scheinbar gegen jede ärztliche Vernunft.
Der Untersuchungsmarathon dauerte mehrere Tage. Sogar einem Psychiater musste Helmke Sears Rede und Antwort stehen. Er befragte sie besonders detailliert über ihren Alkoholkonsum. Nach der Transplantation würde sie abstinent leben müssen, und Menschen, die das nicht durchhalten konnten – ein beträchtlicher Anteil derer, die an Leberzirrhose litten –, wurden von der Warteliste ausgeschlossen.
Anfang Februar 1995 saß Helmke Sears mit ihrer besten Freundin in der Cafeteria des Klinikums und rauchte, als plötzlich Dr. Jauch vor ihr stand. Sie fühlte sich ertappt wie ein Schulmädchen, ließ die Zigarette verschämt unter den Tisch fallen. Er schien es nicht zu bemerken, strahlte über das ganze Gesicht: »Sie können sich freuen. Wir werden Sie transplantieren.«
Zuerst war Helmke Sears überglücklich. Aber zu Hause begann das Warten auf das Organ. Es war ein Rennen gegen die Zeit, nur dass Helmke nicht rannte, sondern saß. Unendliche Stunden kauerte sie in dem Ohrensessel, den Scott ihr gekauft hatte, eingehüllt bis zum Kopf in eine Wolldecke.
Sie starrte auf den »Europieper«, den sie immer bei sich trug, er schwieg. Sie fühlte sich schlecht, weil sie hoffen musste, dass ein gesunder Mensch sterben würde, dessen Organ mit ihrer Blutgruppe kompatibel wäre. Möglicherweise eine Mutter, jung wie sie.
Sechs Monate betrug die durchschnittliche Wartezeit auf das Organ. Vielleicht zu lang für sie. Im Badspiegel entdeckte sie die ersten Spuren des sich ankündigenden Leberversagens. Sie sah ihre Augäpfel gelb werden, ein Zeichen, dass ihre Leber den Blutfarbstoff nicht mehr ausreichend abbaute. Bald würde das geschwächte Organ auch das Essen nicht mehr in Einzelbestandteile aufspalten oder die Giftstoffe abbauen, die sich im Körper täglich anhäuften.
Der Zeiger an der Waage blieb jeden Morgen tiefer stehen – sie sah zu, wie sich ihr Körper auszehrte.
Ihr Grab hatte Helmke sich schon ausgesucht. Manchmal ging sie hinaus in die Winterluft, nahm den kurzen Fußweg vom Haus zum Friedhof, setzte sich auf eine Bank unter kahlen Ästen und stellte sich vor, dass hier in einigen Wochen Scott und die Kinder sitzen würden. Das Gedicht eines namenlosen Dichters, das sie für die Beerdigung ausgesucht hat, sollte ihnen Zuversicht geben:
Steht nicht an meinem Grab und weint
ich bin hier nicht, ich schlafe nicht
ich bin die tausend Winde
das Diamantglitzern auf dem Schnee
ich bin der Sonnenschein auf reifem Korn
ich bin der sanfte Herbstregen
Wenn ihr aufwacht in der Morgenstille
bin ich der schnelle Flügelschlag
ich bin der Stern, sein mildes Licht in der Nacht
steht nicht an meinem Grab und weint
ich bin hier nicht.
Mit Scott plante Helmke das Leben der Familie ohne sie. Scott – der liebende Hausmann an ihrer Seite, der sie umsorgte, verwöhnte, Kraft und Optimismus ausstrahlte. Ohne ihn würde sie diese Wochen nicht durchstehen. Trotzdem plagten sie Zweifel, ob er die Kinder finanziell durchbringen würde. Sie wollte, dass er mit ihnen in die USA ginge.
Die Kinder. Sie durften nichts von diesen Plänen erfahren, sie durften nicht wissen, wie ernst es um ihre Mutter stand. Jessica war erst sieben, Julian fünf. Es war ein Balanceakt – denn gleichzeitig erzog sie die beiden in rasendem Tempo zu mehr Selbständigkeit. Sie brachte ihnen das Schuhebinden bei, im Supermarkt drückte sie Jessica den Geldbeutel und Einkaufsliste in die Hand und schickte beide Kinder mit dem Wagen los.
Wieder
Weitere Kostenlose Bücher