Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
im Darm vorgestellt.
Das war ein Punkt, der sie von vielen Menschen unterschied. Oft litt sie unter dieser Unfähigkeit wegzublicken – auch wenn es um Freundschaften und Beziehungen ging. Andere Krebspatienten, die sie mittlerweile kannte, waren ganz anders. Sie fanden ihr Glück darin, so zu tun, als gäbe es die Krankheit nicht. Wahrscheinlich blickten diese auch bei den Konflikten mit ihren Mitmenschen lieber weg und waren damit zufrieden. Was war besser, was schlechter? Zunächst schien es, als würde Helmke ihren inneren Kampf verlieren.
Der Krebs schritt aggressiv voran, und nur ein halbes Jahr nach ihrem ersten Rückfall erlebte Helmke Sears den zweiten. Wieder Lebermetastasen, diesmal mehrere. Wieder kam sie ins Klinikum Großhadern. Wieder musste sie die langwierigen und erniedrigenden Fragen und Prozeduren über sich ergehen lassen: Stuhlgang beschreiben – wie peinlich. Warum konnte sie nicht Brustkrebs oder Lungenkrebs haben, dachte sie. Ausziehen. Hinlegen. Einatmen. Ausatmen. Umdrehen. Einatmen. Spritzen. Kanülen. Infusionen. Schläuche. Sie fühlte sich nackt, der Neugierde der Ärzte ausgeliefert.
Matthias Anthuber überragte die meisten seiner Kollegen um einen halben Kopf. Früher, als er noch Handball in der deutschen Nationalmannschaft spielte, hatte er seine Körpergröße als Vorteil empfunden. Das war nun schon einige Jahre her, am Ende seines Medizinstudiums hatte er den nervenzehrenden Spagat zwischen Sport und Beruf nicht länger durchhalten können. Jetzt, als Chirurg, musste er sich mit seinen 1,90 Metern weit hinunterbeugen, um zu operieren – es war nicht eben praktisch. Aber er liebte seinen Beruf, etwas anderes war für ihn nie in Frage gekommen. Sein Vater, Chefarzt für Chirurgie im bayerischen Simbach, hatte ihn und seine beiden Brüder so nachhaltig mit seiner Leidenschaft geprägt, dass alle drei Medizin studiert hatten und in operativen Fächern arbeiteten.
Chirurgen eilt der Ruf voraus, sie interessierten sich nicht für die Schicksale ihrer Patienten, sondern nur für ihre Eingeweide. Anthuber stand dieser Mentalität kritisch gegenüber, er hatte vom Vater einen Leitsatz übernommen: »Chirurgie ist mehr als Operieren.«
Im Winter 1994 führte Anthuber als Assistenzarzt die Station H7, Allgemeinchirurgie, und hatte viel mit Krebspatienten zu tun. Bevor er dort das erste Mal Helmke Sears begegnete, sah er ihre Leber in Computertomografie-Schnitten auf einem Bildschirm. Er erkannte sofort: Sie war inoperabel. Mindestens zwölf Tochtergeschwülste, kaum gesundes Gewebe dazwischen.
Er blätterte durch die Krankenakte. Die Frau, die zu den Bildern gehörte, war fast auf den Monat so alt wie er. Erstdiagnose Dickdarmkrebs im Frühjahr 1993, OP, damals schon fortgeschrittenes Stadium. Vor einem halben Jahr Tochtergeschwulst in der Leber, Teilresektion hier am Haus, sein vorgesetzter Oberarzt Karl-Walter Jauch hatte die OP durchgeführt. Jetzt erneut Rückfall.
Hatten die Krebszellen schon weiter gestreut? Oder war nur die Leber betroffen? Das war eine entscheidende Frage für die Prognose, aber eine sichere Antwort war unmöglich. In jedem Fall aber würde sie höchstwahrscheinlich nur noch wenige Jahre leben.
Wie sehr er diese Gespräche verabscheute. Gleich würde er einer schwer gezeichneten Frau gegenübersitzen, die Augen in tiefen Höhlen und voll banger Hoffnung. Manche Patienten sahen schon an seinem Gesichtsausdruck, dass er keine guten Nachrichten brachte, ihr Blick wurde dann leer. Er gab sich einen Ruck. Am besten gleich hinter sich bringen.
Als er das Krankenzimmer betrat, glaubte er, sich in der Tür vertan zu haben. Die Frau passte vom Alter her zur Akte, aber er sah keine Spur eines fortgeschrittenen Krebsleidens. Die lockigen braunen Haare glänzten, ihr Gesicht mit den ebenen Zügen hatte einen gesunden braunen Teint, sie war groß und schlank, doch nicht ausgezehrt, und sie strahlte ihn aus blauen Augen an.
Als er ihr dargelegt hatte, wie es um sie stand, brach sie nicht zusammen, weinte nicht, fragte nur: »Und was können Sie tun?« Noch perplex, erklärte er ihr, dass nur noch eine lokale Chemotherapie für sie in Frage komme. Die Infusionen sollten direkt über die Leberschlagader zu den Metastasen laufen, so könnte das Mittel in maximaler Konzentration seine zerstörerische Kraft auf den Krebs entfalten.
»Dann fangen Sie gleich an, oder?«
»Nicht ganz«, erklärte Anthuber. Zuvor müssten sie noch eine Spezialuntersuchung zur
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