Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Armen. Helmke weinte zum ersten Mal seit langem.
Später fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Um sieben Uhr brachte eine Krankenschwester ihr das OP-Hemd. Waschen. Rasieren. Plötzlich spürte sie Optimismus in sich aufsteigen. Das Telefon klingelte. Scott.
»Ich liebe dich«, sagte sie. »Ich werde es schaffen. Und morgen werden wir uns sehen.«
»I love you, too. Everything will be okay«, sagte er. Helmkes Wut über solche Sätze war weg. Jetzt glaubte sie selbst daran.
Sie zitterte am ganzen Leib, als sie eingehüllt in warme Decken zur OP-Schleuse gefahren wurde.
Anthuber und Jauch waren hoch motiviert. Ihre Energie sollten sie für den nächsten Rückschlag brauchen. Der Bauchraum war gerade zehn Minuten eröffnet, da sagte Jauch unvermittelt:
»Das war’s dann wohl. Lass uns zumachen.«
Zwischen seinen Fingern hielt er einen knotig vergrößerten Lymphknoten. Er lag in einem Band, das die Leber mit dem Zwölffingerdarm verband. Beide wussten, was der Lymphknoten bedeutete: Der Krebs hatte vermutlich schon im ganzen Körper gestreut.
Anthubers Kopf war leer. Dann bemächtigte sich ein irrationaler Gedanke seiner. War er vielleicht einfach nur vergrößert, aber nicht vom Krebs durchsetzt? Eine letzte Hoffnung. Zeit gewinnen. Sichergehen. Zu lange hatten sie diese Operation vorbereitet. Jetzt aufgeben kam nicht in Frage.
»Lass uns einen Schnellschnitt machen«, sagte er.
Jauch gab nach, denn es ging um viel. Er schien das hören zu wollen.
Gewebeuntersuchung im Labor – nachts wäre es geschlossen gewesen. Sie hätten sofort am OP-Tisch entscheiden müssen. Sie hätten sich dafür entschieden abzubrechen, davon sind beide heute überzeugt.
Es würde eine halbe Stunde brauchen, bis das Resultat da war. Anthuber stellte sich vor, wie Helmke Sears erwachen würde. Wie er ihr erklären müsste, dass sie die Operation abgebrochen hatten. Dieser Frau, die bereit war, alles zu wagen. Er müsste ihr sagen: Wir haben nicht alles gewagt, wir haben vorzeitig aufgegeben. Unmöglich! Die kurze Schonfrist reichte ihm, um den nächsten Plan zu schmieden.
Das Ergebnis war eindeutig: Der Lymphknoten war vom Krebs befallen.
»Lass uns zusätzlich einen Whipple machen«, sagte Anthuber.
Zehn Minuten laute Worte am OP-Tisch. Wieder war es die Freundschaft zwischen beiden, die half. Ein anderer Operateur hätte Anthuber vermutlich einfach aus dem OP geworfen.
Die Whipple-OP, auf die Anthuber hinauswollte, war bei Helmke Sears nicht indiziert, sie war für ganz andere Erkrankungen vorgesehen. Sie beinhaltete das weiträumige Entfernen weiterer eventuell befallener Lymphknoten, des Zwölffingerdarms, eines Teils des Magens und der Bauchspeicheldrüse. Eine Rasenmähermethode. Vielleicht erwischten sie so zufällig einen Großteil der gestreuten Tumorzellen. Lebertransplantation plus Whipple. Zwei Operationen, die jede für sich genommen den Körper extrem belasten. Er wollte Helmke Sears beides zumuten – und glaubte, so in ihrem Sinne zu handeln. Es war irrational. Höchstes Risiko, maximal möglicher Gewinn, ein Eingriff, der so in keinem Lehrbuch beschrieben war.
Doch Anthuber schaffte es, seinen Oberarzt wieder zu entflammen. Es schien, als brauchte der geniale Operateur den jungen Wilden an seiner Seite, der noch an Wunder glaubte. Und daran, dass er, Jauch, die große chirurgische Herausforderung meistern würde. Der Erfahrene und der Bauchgetriebene – ein perfektes Team.
Beide wussten, auf welch schmalem Grat sie sich bewegten. Sie mussten gewinnen, Helmke Sears musste durchkommen – sonst würden Fachkollegen und vielleicht gar die Presse über sie herfallen. Schlagzeilen nach dem Motto: »Wenn der Chirurg den Tod bringt – ehrgeizige Ärzte setzen Leben ihrer Patienten für leichtfertige Experimente aufs Spiel.«
Nach sieben Stunden, um 15 Uhr, hatten sie eine Operation vollbracht, die es bei dieser Erkrankung und Indikation vermutlich nur einmal auf der Welt gab. Helmke Sears wurde auf die chirurgische Intensivstation gebracht.
Wenn sie jetzt die kommenden zwei Wochen überlebte, hätte sie vielleicht noch ein paar glückliche Jahre, dachte Anthuber, als sie seinem Blick entschwand. Um ihre Chancen noch zu steigern, würde er ihr eine weitere experimentelle Therapie verordnen, von der Onkologen gerade elektrisiert waren: Tumor-Antikörper. Erst seit kurzem war das erste Produkt gegen Darmkrebs auf dem Markt, Panorex®. Es gab kaum Erfahrungen.
»Wenn mir bewusst gewesen wäre, was diese
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