Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Beurteilung des anatomischen Verlaufs der Leberschlagader durchführen. »Aber das ist reine Routine.«
Er blieb noch bei ihr, sie erzählte ihm von ihrem Leben, ihren Kindern, ihrem Mann, den sie liebte. Sie hatte eine mädchenhafte Ausstrahlung, konnte wunderbar lächeln, wirkte weich und liebevoll. Sie sprach von der Krankheit und davon, wie wichtig es sei, dass er ihr immer die Wahrheit sagte. Er musste es ihr versprechen, sie schlossen einen Pakt. Dann plötzlich sagte sie jenen Satz, der ihn tief in der Seele traf und an den er später so oft denken würde. Ihre Stimme schwang um, er spürte eine Entschlossenheit, die er nicht von Patienten kannte, die soeben erfahren hatten, dass sie nicht mehr lange zu leben hatten. »Ich bin bereit, alles zu ertragen, damit meine Kinder so lang wie möglich ihre Mutter haben.«
Bei etwa 15 Prozent aller Menschen verläuft die Leberschlagader untypisch. Diese anatomische Variante ist normalerweise bedeutungslos. Jedoch kann in einem solchen Fall kein Port gelegt werden, über den Medikamente direkt der Leber zugeführt werden. Eine »lokale Chemotherapie« über die Leberschlagader ist dann unmöglich.
Helmke Sears war von der anatomischen Variante betroffen.
Matthias Anthuber erfuhr das Untersuchungsergebnis schon wenige Stunden nach seinem ersten Gespräch mit ihr. Er wusste, was es bedeutete: Es gab keine andere Therapieoption mehr als die »palliative Chemotherapie«. Das Wort »palliativ« umschrieb mildernde Umstände beim Todesurteil, jedoch keinen Aufschub. Das Medikament würde über die Armvene gegeben. Es würde ihre Beschwerden und Schmerzen lindern und ihr das Sterben erträglicher machen. Wahrscheinlich hatte sie nur noch wenige Monate.
Er klappte die Akte zu. Mein Gott, dachte er – eine Frau, so jung wie er. Sie würde ihre Kinder nicht aufwachsen sehen. Er selbst hatte noch nicht mal eigene Kinder. Was würde ich jetzt wollen, wenn ich an ihrer Stelle stünde, überlegte er. Es war eine rhetorische Frage, denn er wusste die Antwort schon. Er würde auf volles Risiko gehen. Aber konnte er das, woran er jetzt dachte, einer Patientin anbieten? Er versuchte es andersherum zu sehen: Durfte er dieser Patientin, die alles wissen wollte, verschweigen, dass es diese Möglichkeit gab?
An das nachfolgende Gespräch erinnerten sich Helmke Sears und Matthias Anthuber später unterschiedlich. Er glaubt, er habe den riskanten Eingriff zuerst vorgeschlagen. Sie glaubt, sie habe ihn danach gefragt, denn sie hatte schon davon gehört.
»Ich werde das nicht allein entscheiden können«, schloss Anthuber. »Lassen Sie mich zunächst mit dem Oberarzt Dr. Jauch sprechen. Dann tragen wir es in die große Runde. Alle müssen dazu stehen, dass wir das versuchen!«
»Du spinnst«, sagte Jauch. »Vielleicht denkst du mal an letzte Woche zurück? Nie mehr bei Krebspatienten, haben wir gesagt.«
Anthuber wusste, was er meinte. Die Patientin aus Niederbayern war jung gewesen wie Helmke Sears. Sie hatte an einem inoperablen Krebs der Gallenwege gelitten. Nach dem Eingriff war es ihr gutgegangen. Zehn Tage später dann eine seltene, doch nicht untypische Komplikation: Riss einer OP-Naht an der Leberschlagader. Massenblutung. Tod auf dem Weg zum OP-Saal.
Doch selbst wenn die Operation gelang, waren die Folgen zu bedenken: Helmke Sears war schon geschwächt. Damit ihre Kräfte nicht noch weiter verfielen, müsste sie auf die Chemotherapie verzichten. Nach dem Eingriff aber würde sie Immunsuppressiva brauchen, also Medikamente, die ihre körpereigene Abwehr unterdrückten – möglicherweise fatal bei einer Krebserkrankung, die sich dann umso rascher ausbreiten könnte.
»Wir sind nicht die Ersten, die das ausprobiert haben, das weißt du so gut wie ich«, fuhr Jauch unerbittlich fort. Natürlich wusste Anthuber das. Es gab keine großen Studien, nur Berichte über kleine Fallserien, aber sie kamen zu vernichtenden Ergebnissen. Bei einem Großteil der Patienten kam der Krebs innerhalb der ersten zwei Jahre zurück.
»Wenn es schiefläuft, Matthias, nehmen wir ihr die letzten schönen Wochen.«
Die Argumente sausten auf Anthuber nieder wie Hammerschläge. Sie erreichten seinen ärztlichen Sachverstand, und er musste Jauch in allem recht geben. Trotzdem rebellierte etwas in ihm, ein Bauchgefühl, dem er nur zu gerne nachgeben wollte. Wer wusste schon, welche individuellen Voraussetzungen jene Patienten gehabt hatten, über die die anderen Ärzte in ihren Publikationen
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