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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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waren es die Kinder, die Helmke das Gefühl gaben, sie durfte nicht sterben. Ihre Familie ohne sie, das war unvorstellbar.

    Der 28. Februar 1995 war ein Faschingsdienstag. Ein heute verblasstes Foto zeigt Jessica und Julian als Prinzessin und Cowboy im Garten, beide lächeln unbeschwert in die Kamera.
    Zur etwa gleichen Tageszeit, zu der dieses Foto entstand, hauchte eine Frau, 46 Jahre alt, nach einem schweren Autounfall in einer fremden Stadt ihr Leben aus. Sie trug einen Organspenderausweis bei sich. Zwei Neurologen hatten unabhängig voneinander den Hirntod diagnostiziert. Die Angehörigen waren informiert. Die Ärzte schickten ein Fax mit ihren Angaben in die niederländische Stadt Leiden zur Zentrale der Stiftung Eurotransplant. Ein Computerprogramm glich dort die Angaben der Frau mit denen aller Empfänger auf der Warteliste ab. Das Ergebnis: Im Klinikum Großhadern München gab es eine Patientin, die eine Leber brauchte. Ihre Blutgruppen deckten sich. Das Immunsystem der Patientin würde die Leber der Frau wahrscheinlich nicht abstoßen.
    Das Telefon klingelte kurz vor Mitternacht. Das Organ war auf dem Weg! Unfassbares Glück. Sie hatte weniger als einen Monat gewartet.
    Die Tasche mit den wenigen Habseligkeiten für das Krankenhaus war seit Wochen gepackt und stand neben dem Schrank. Scott versuchte, Freunde zu erreichen, jemanden zu finden, der sich um Jessica und Julian kümmerte. Doch niemand nahm ab. Sie waren auf Faschingspartys oder im Skiurlaub. »Bleib du hier, ich fahr allein«, versuchte Helmke Scott zu überreden. Doch er blieb eisern, wollte sie unbedingt begleiten. Nach vielen Telefonaten fanden sie endlich eine Bekannte, die sofort kam. Helmke warf einen letzten Blick ins Kinderzimmer. Jessica und Julian schliefen tief.
    Im Auto schwiegen sie, während im Scheinwerferkegel die Leitpfosten der Autobahn vorbeihuschten. »Die entscheidende Frage, ob ich sterben oder nach der Operation wieder aufwachen würde, lag unausgesprochen zwischen uns«, notierte Helmke später im Tagebuch. Im Krankenzimmer umarmten sie sich fest, krallten die Hände ineinander, dann ging Scott. »Seine Gefühle berührten mich zu sehr«, schrieb Helmke. »Das wollte ich nicht. Ich wollte nichts mehr fühlen.«

    Organtransplantationen finden fast immer mitten in der Nacht statt. Das hat Konsequenzen, die kein Arzt gerne zugibt. Die Operateure haben dann oft lange Arbeitstage hinter sich und sind nicht so wach wie morgens um acht Uhr, wenn die OP-Routine beginnt. Stoßen sie nachts auf ungewöhnlich schwierige Verhältnisse, sind sie oft rascher geneigt, nach Schema F vorzugehen und eine Operation auch abzubrechen.
    Der Hubschrauber, der das Organ für Helmke Sears brachte, landete um kurz vor vier Uhr morgens auf dem Landeplatz östlich des Klinikums Großhadern. Anthuber setzte den OP-Termin auf acht Uhr morgens fest. Später würde er das als großen Glücksfall ansehen.
    Die Leber lag in einer Styroporschachtel, groß wie eine Campingkühlbox, eingebettet in gecrushtes Eis. Ein Lappen Fleisch, braunrot, dreifach verpackt in Zellophanbeuteln, schwamm er in einer gelblichen Konservierungsflüssigkeit.
    Keine tolle Leber, dachte Anthuber, relativ groß und verfettet, nicht überraschend, denn die Spenderin war den Angaben zufolge korpulent gewesen. Seine Aufgabe war es nun, sie in einem Kaltwasserbad auf die Transplantation vorzubereiten, Fettgewebe abzupräparieren, die Stiele der Adern freizulegen.

    Helmke Sears hatte eine unruhige Nacht. Dem Stationsarzt musste sie eine letzte Einwilligung unterschreiben, dann erschien der Anästhesist, der sie über die Narkose aufklärte und ihr ein Schlafmittel gab. Als sie endlich die Augen schloss, öffnete sich wieder die Tür, ihre beste Freundin stürzte herein, sie hatte den Spruch auf dem Anrufbeantworter abgehört.
    »Geh bitte, ich will allein sein«, sagte Helmke. Die Freundin setzte sich an die Bettkante. Alles werde gut, sagte sie. Helmke wurde wütend. »Mach mir nichts vor! Warum versucht mich jeder zu trösten und mir einzureden, alles wird wieder gut? Woher wisst ihr das? Woher wisst ihr, dass ausgerechnet ich die Chance bekomme weiterzuleben?« Es war paradox: Helmke empfand weniger Panik, wenn sie dem Tod ins Auge blickte, als wenn sie sich jetzt am Leben festklammerte.
    Sie versuchte, es der Freundin zu erklären, die lange zuhörte. Dann versprach sie, sich um Scott und die Kinder zu kümmern, falls Helmke nie mehr erwachte. Zum Abschied lagen sie sich in den

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