Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
berichtet hatten. Um zu verstehen, warum viele von ihnen schnell gestorben waren, müsste man jeden Einzelfall im Detail analysieren.
Anthuber dachte an jene Frau, über die ein Fachkollege aus Hannover auf einem Kongress erzählt hatte. Zwar hatte sie nach dem Eingriff bald wieder Metastasen bekommen, aber die waren operabel gewesen. Sie hatte 15 Jahre überlebt. 15 Jahre statt einige Monate! Kein Patient war wie jeder andere. Helmke Sears war jung. Ihr Allgemeinzustand war hervorragend. Ihr Überlebenswille war unermesslich. Wer, wenn nicht sie?
»Versetz dich doch mal in ihre Lage«, versuchte er es. »Was würdest du wollen?«
»Das steht doch hier gar nicht zur Debatte«, konterte Jauch. »Wir können die Folgen viel besser einschätzen und wissen genau, worauf wir uns einlassen.«
Die Hierarchie war klar. Jauch war der Erfahrene, Anthuber der Jungspund. Jauch war Oberarzt, habilitiert, eine Autorität in der Bauchchirurgie – Anthuber war gerade mal Facharzt. Jauch würde die Operation, über die sie hier diskutierten, durchführen müssen, Anthuber wäre nur erster Assistent. Wenn es schiefging, würde Jauch den Kopf hinhalten müssen, nicht Anthuber. Wie lange wollte er jetzt noch weiterdiskutieren?
Jeder andere Assistenzarzt wäre schon eingeknickt. Anthuber aber dachte an seinen Auftrag – und nahm noch ein letztes Mal Anlauf. Er und Jauch waren streiterprobt. Sie waren befreundet, er durfte ihn »Charly« nennen, sie trafen sich abends, ihre Frauen kannten einander. Sie trugen ihre Differenzen gerne auf dem Tennisplatz aus, und dort hatte Charly keine Chance gegen seinen Assistenzarzt.
»Komm, lass uns mit ihr sprechen und alle Risiken schonungslos auf den Tisch legen. Sie hat verdient, dass wir aufrichtig sind. Ich glaube, sie wird alle Argumente gut abwägen, und vielleicht entscheidet sie sich ja dagegen.«
Die Lebertransplantation gilt als eine der schwierigsten Organverpflanzungen. Sie ist mit etlichen Risiken behaftet, was auch daran liegt, dass sich die Patienten häufig schon länger in einem schlechten Allgemeinzustand befinden. Die Hauptgruppe der Empfänger sind Patienten mit Leberzirrhose – ihre Leber droht zu versagen, nachdem chronische Entzündungen, Infektionen, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch sie schwer geschädigt haben.
Menschen mit Leberversagen sind – anders als solche mit Nieren- oder Herzversagen – vom unmittelbaren Tod bedroht, weil es bis heute keine Geräte gibt, die die Entgiftungsfunktion der Leber auch nur vorübergehend übernehmen können. Deshalb werden auf der Warteliste diejenigen Patienten bevorzugt, deren Zirrhose schon lebensgefährdend weit fortgeschritten ist.
Im Jahr 1995 blickte Helmke Sears zwar dem Tode ins Auge, sie war jedoch gemäß einer stillen Übereinkunft der deutschen Lebertransplantationszentren als mögliche Organempfängerin praktisch ausgeschlossen. Das schien vernünftig, denn es war nicht statistisch belegt, dass sie davon profitieren würde. Eine Leber für sie wäre also »verschenkt«, weil sie vermutlich ohnehin sterben würde – wohingegen ein Leberzirrhose-Patient nach der Transplantation möglicherweise noch Jahrzehnte leben könnte. Die Warteliste der potenziellen Leberempfänger war zwar kürzer als heute, trotzdem verstarben auch damals schon viele, bevor ein Organ für sie gefunden wurde.
Damals jedoch, zwei Jahre vor dem Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes, hatten die Ärzte einen gewissen Ermessensspielraum, durften Einzelfallentscheidungen treffen. Die Messlatte am Klinikum Großhadern war hoch, Helmke Sears würde viele Untersuchungen durchlaufen müssen. Anthuber würde seinen Kollegen und Vorgesetzten beweisen müssen, dass sie noch nicht so nah am Tode stand, wie die Befunde es vermuten ließen. Dass der Krebs nach ärztlichem Ermessen noch nicht über die Leber hinaus gestreut hatte. Dass keine andere lebensbedrohliche Erkrankung vorlag. Dass ihr Körper stark genug war, um die Strapazen der Operation durchzustehen. Die Entscheidung würden dann alle Ärzte des Lebertransplantationsteams in einer gemeinsamen Abstimmung fällen.
Als Helmke Sears verstanden hatte, wie belastend die Prozedur wäre und wie mager die Erfolgsaussichten, sagte sie: »Ich brauche einen Tag Bedenkzeit. Darf ich heute nach Hause? Morgen haben Sie meine Entscheidung.«
Zu Hause bastelte sie mit den Kindern, als ob nichts wäre. Sie ging lange mit Scott spazieren. Es war graues Nieselwetter, in den nackten
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