Patient Null
durchgebissen hatte. Ich wusste auch nicht, ob das der Zeitpunkt war, als sie um Hilfe flehten und Church seine Schergen, sprich Eimerkopf und seine Schlägerbande, mit ihren Schlagstöcken oder Tasern hineinschickte. Ich wusste nur, dass diese Augen drauf und dran waren, mir die Seele aus dem Leib zu saugen. Ich spürte, wie sich mein Rachen zusammenschnürte und wie sich ein eiskalter Schauder durch mein Rückenmark bis zu meinen Eingeweiden breitmachte.
Ich blickte in einen schwarzen See aus Horror und totaler Hoffnungslosigkeit, und mir wurde klar: Ich sah dem Tod in die Augen.
Aber hier ist der Gag: Ich hatte diese Dinge schon vorher gesehen. Vielleicht hatte ich mich nicht auf den Schlachtfeldern dieser Welt herumgetrieben, aber Church hatte Recht gehabt, als er sagte, dass ich dem Horror ins Angesicht geblickt hatte. Und es reichte noch tiefer. Ich verstand nicht nur, was Horror war …
Ich kannte auch das Antlitz des Todes. Ich hatte am Sterbebett meiner Mutter gesessen, als der Gebärmutterkrebs sie mir weggenommen hatte. Ich war der Letzte, den sie sah, ehe sie in das große schwarze Nichts hinüberglitt. Und ich sah, wie das Licht in ihr erlosch. Ich sah, wie die Augen eines Lebenden zu denen eines Toten wurden. Das kann man einfach nicht vergessen; dieser Anblick hatte sich auf meiner Festplatte eingebrannt. Und dann fand ich auch noch Helen, nachdem sie eine halbe Flasche Abflussreiniger geschluckt hatte. Sie hatte eine letzte Nachricht auf meinen Anrufbeantworter hinterlassen, war aber schon tot, als ich ihre Tür aufbrach. Auch in ihren Augen hatte ich den Tod gesehen.
Dazu kamen die toten Augen von denjenigen, die ich im Laufe meiner Arbeit erledigt hatte. Zwei innerhalb von acht Jahren – jetzt kamen noch die von der Lagerhalle hinzu.
Lange Rede, kurzer Sinn: Ich kannte tote Augen, und ich wusste, was mir gegenüberstand. Ich sah den Tod, ich sah Terror, und ich sah Hoffnungslosigkeit. Nicht die meiner Mutter, nicht die von Helen, nicht die der Kriminellen, die ich auf dem Gewissen hatte – nein. Der Tod, den ich sah, war mein eigener, reflektiert in Augen, die selbst keinen Funken Leben mehr in sich hatten.
Man kann einen solchen Blick nicht nachahmen. Viele Kriegertypen setzten einen ähnlichen Blick auf, aber letztlich
war er anders – sie standen in Einklang mit dem Tod. Church wusste das alles. Er wusste schließlich alles über mich. Er kannte meine Berichte, meine Vergangenheit. Verdammt, das Arschloch wusste einfach alles.
Javad warf sich erneut auf mich. Seine Finger rissen mein Hemd in Fetzen. Der Gestank, den er verbreitete, erinnerte mich an Aasgeier. Nein … Nein, das traf es nicht. Javad stank nach Aas. Er roch wie die Toten, weil er tot war . Diese Gedanken schossen mir in Sekundenschnelle durch den Kopf, und ihre Schnelligkeit und Klarheit wurde noch durch den Horror verstärkt, der mich erfüllte.
Horror ist eine merkwürdige Sache. Er kann dir das Herz rauben und dich wehrlos und schwach zurücklassen; es wird dir heiß, und du glaubst, den Verstand zu verlieren. Das führt normalerweise ruckzuck zum eigenen Tod.
Oder Horror stählt dich. Das passiert allerdings meist nur Kriegertypen – echten Kriegertypen, die sich durch Konflikte definieren. Typen wie mir.
Ich schaltete also alle Gefühle ab. Die Zeit stand still, und auf einmal war kein Geräusch mehr zu hören – nur noch das Pochen meines eigenen Herzens. Ich hörte auf, entkommen zu wollen, denn es hatte keinen Sinn. Ich saß fest, und Church hatte nicht vor, mir die Kavallerie zu Hilfe zu schicken. Also tat ich es Javad gleich: Ich attackierte.
Mit der Rechten holte ich zu einem Handflächenschlag aus, der seinen Kopf so weit zur Seite drehte, dass ich hörte, wie sich seine Nackenwirbel bogen. Das allein wäre genug gewesen, um den stärksten Bären innehalten zu lassen, aber auf Javad machte es keinen größeren Eindruck als die beiden Kugeln, die ich in seinem Rücken geparkt hatte. Doch mir gab es zumindest genügend Zeit, um für einen Moment seinen gierigen Zähnen zu entkommen. Insgesamt war Javad allerdings nicht aufzuhalten. Wenige Sekunden später streckte und reckte er schon wieder den Kopf, um mich zu fixieren.
Hastig wand ich mein Bein um das seine und trat nach seiner Kniekehle. Keine Ahnung, ob er Schmerz spürte. Aber ein angewinkeltes Knie ist und bleibt ein angewinkeltes Knie. Hat etwas mit Schwerkraft zu tun. Er knickte auf der einen Seite ein, und ich nutzte sein wegsackendes Gewicht,
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