Patient Null
ein Vorkommnis dieser Art hatte es seit mindestens hundert Jahren nicht mehr gegeben. Es würde Jahre dauern, ehe man den wahren Grund herausfinden würde.
3.
Zehn Tage später traf ich Church in seinem Büro in der Lagerhalle an. Es ging das Gerücht um, dass er bald in den Hangar nach Floyd Bennett Field umziehen würde.
»Machen Sie die Lagerhalle dicht?«
»Nein … Sie und Grace werden hier übernehmen. Wir benötigen diese Basis.«
Das hörte sich nicht schlecht an, doch ich verkniff mir ein Lächeln. Grace und ich waren seit der Katastrophe im Liberty Bell Center viel zu beschäftigt gewesen, um etwas miteinander trinken zu gehen. Aber das wollten wir an diesem Abend endlich nachholen. Ihr Lächeln, das sie mir immer wieder geschenkt hatte, ließ mich hoffen, dass es diesmal etwas weitergehen könnte als in jener Nacht … Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich. »Also, wo stehen wir?«, frage ich Church.
Church legte die Papiere, die er in der Hand hielt, auf den Schreibtisch und streckte sich. »Wir haben die Welt gerettet, Captain Ledger. Mehr oder weniger. Mit Sicherheit
aber haben wir die Wirtschaft der Vereinigten Staaten gerettet. Außerdem haben wir ein bedeutendes Terrornetzwerk zerschlagen. Wir sind Helden, und der Dank einer gesamten Nation ist uns sicher. Auch wenn niemand davon weiß. Aber auf dem Weg zum Heldentum haben wir einige Leute in ziemliche Verlegenheit gebracht. Wir haben uns also auch neue Feinde gemacht. Zum Beispiel würde die Frau des Vize-Präsidenten den Kopf von Major Courtland am liebsten ausgestopft an ihrer Wohnzimmerwand sehen. Wenn es nach der First Lady ginge, wären allerdings sowohl Sie als auch unser First Sergeant Sims längst heiliggesprochen worden.«
»Und was heißt das für uns?«
»Uns?«
»Für das DMS.«
Church zuckte mit den Schultern. »Nichts. Wir bleiben weiter im Geschäft.«
Ich blickte ihm direkt in die Augen. »Church, wer sind Sie?«
»Nur ein Bürohengst.«
»Blödsinn.«
»Was glauben Sie, wer ich bin?«
»Grace ist der Meinung, dass Sie alle Mächtigen in Washington unter Ihrer Kontrolle haben, weil Sie wissen, welche Leichen sie im Keller haben.«
Er schenkte mir das freudloseste, traurigste Lächeln, das ich jemals hatte.
»Das sollte ich auch«, antwortete er leise. »Schließlich habe ich viele von ihnen vergraben.«
4.
Als Grace einige Stunden später in meinen Armen lag, unterhielten wir uns. Wir waren beide nackt. Das Bier stand ungeöffnet auf dem Boden, umgeben von unseren zerknüllten Klamotten. Einige waren zerrissen – meine und ihre.
»Also bleibst du bei uns?«, fragte sie. Ich wusste, dass sie vom DMS sprach. Aber wie immer klangen ihre Worte vieldeutig.
»Ja. Rudy ist auch weiterhin mit von der Partie. Und sogar Jerry hat sich überreden lassen.« Ich hielt inne und streckte meine Finger, die gerade noch die ihren gehalten hatten. »Ich glaube, ich habe hier eine Heimat gefunden.«
Daraufhin schwieg Grace lange.
»Ich auch«, sagte sie schließlich.
Ich schloss die Augen und zog sie noch näher an mich.
5.
Das Lazarettschiff HMS Agatha stampfte und rollte langsam durch die Wogen des Arabischen Meers. Es war eine heiße Julinacht, und das Personal hatte einige der Soldaten an Deck gebracht, damit sie der stickigen Luft im Inneren des Schiffs zumindest eine Zeit lang entkommen konnten. Ein paar der Männer und Frauen waren allerdings so schwer verletzt, dass auch die frische Brise ihre Qualen nicht linderte. Den Brandopfern ging es am schlimmsten. Heiße Winde, die miserable Lüftung unter Deck und die salzige Gischt waren ihre besonderen Peiniger.
Der Mann, der allein in seinem Rollstuhl auf dem Achterschiff saß, hatte sich trotzdem noch nie beschwert. Sein Gesicht und seine Hände waren bandagiert, und eines seiner Augen schimmerte milchig weiß. Den Ärzten zufolge musste es in seinem Schädel gekocht worden sein. Wie es
der Mann durch die Wüste geschafft hatte, war noch immer nicht geklärt. Er hatte keine Haut mehr auf den Finger, um Abdrücke zu machen, aber eine DNS-Analyse verriet, dass es sich um einen gewissen Steven Garret handelte. Er war Sanitäter bei einer britischen Einheit gewesen, die während eines Himmelfahrtskommandos einiger Widerstandskämpfer so gut wie vernichtet worden war. Der verbrannte Mann konnte sich wegen seiner Schmerzen nicht verständigen, und seitdem er ins Lazarett geflogen und dann auf die Agatha verfrachtet worden war, hatte er keinen Laut von sich gegeben. Ein armer
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