Patient Null
Muskel. Er war dünn, etwas kleiner als ich und hatte eine dunkle Hautfarbe – wahrscheinlich aus Lateinamerika oder dem Mittleren Osten. Seine schwarzen Haare trieften vor Schweiß und hingen in fettigen Strähnen herab. Er trug einen orangefarbenen Null-acht-fünfzehn-Gefängnisoverall und war völlig neben der Kappe. Sein Kopf hing beinahe bis zu seinen Knien.
Ich trat einen Schritt in den Raum. Der Spiegel zu meiner Linken irritierte mich kurzzeitig. Bestimmt beobachtete mich Mr. Church und mampfte dabei wahrscheinlich eine weitere Vanillewaffel. Die Tür hinter mir fiel ins Schloss. Ich drehte mich um und sah Eimerkopf, der mich durch das Glas hindurch anstarrte. Für einen Augenblick glaubte ich, er würde mich anlächeln. Erst dann verstand ich die Grimasse, die er schnitt: Es war ein schmerzerfülltes Zusammenzucken seiner einzelnen Gesichtsmuskeln, als ob er einen Skorpion erblickt hätte und darauf wartete, ihn kaltzumachen. Sogar hinter der Stahltür hatte der Agent mächtigen Respekt vor dem Exemplar, das vor mir saß. Das fing ja gut an …
Die Handschellen hielt ich in meiner Rechten und streckte die linke Hand aus, Handfläche zuerst. Es war eine beruhigende und gleichzeitig bestimmende Geste. Sie wirkte normalerweise beschwichtigend, war aber auch verdammt
nützlich, um etwas abzublocken, zu packen oder zuzuschlagen. Nur für den Fall, man wusste ja nie.
»Alles klar, Kollege«, sagte ich ruhig. »Ich möchte, dass wir hier zusammenarbeiten.«
Schweigen.
»Sir, können Sie mich verstehen?«
Er rührte sich keinen Millimeter.
Ich ging um den Tisch herum und näherte mich ihm von seiner linken Seite. »Sir? Könnten Sie bitte aufstehen, Hände über den Kopf. Sir … Sir! «
Nada.
Ich kam noch näher. »Sir, ich möchte, dass Sie aufstehen …«
Und das tat er dann auch. Schlagartig schnellte sein Kopf hoch, und die Augen öffneten sich. Bevor ich bis drei zählen konnte, stand er vor mir und drehte sich zu mir um. Mein Herz setzte für einen Moment aus. Ich kannte den Typen. Das blasse, schweißüberzogene Gesicht, der verschleierte Blick. Das war Javad Mustafa – der Terrorist, dem ich den Rücken mit Blei vollgepumpt hatte. Wie eine Katze fauchte er mich an und warf sich dann auf mich. Er war vielleicht nur eins fünfzig groß, aber sein Aufprall traf mich wie eine Kanonenkugel und schleuderte mich mit voller Wucht gegen die Wand. Mein Rücken protestierte lautstark, und für einen Moment sah ich Sternchen, als mein Hinterkopf gegen die Mauer knallte. Als Javad wie ein Tier nach mir zu schnappen begann, rammte ich ihm meinen Unterarm unter das Kinn. Er gab jedoch nicht auf, seine Zähne schnappten unentwegt nach mir. Es hörte sich an, als ob Porzellan aufeinandertraf. Er fasste nach meinem Hemd und versuchte, mich näher an sich heranzuziehen.
Der DVD-Spieler in meinem Kopf spielte die Lagerhausszene immer wieder vor meinem inneren Auge ab: Ich schoss ihm zweimal in den Rücken. Daran gab es nichts zu rütteln. Okay, ich hatte ihn nicht nach Lebenszeichen untersucht.
Aber das war normalerweise auch nicht nötig, wenn man zwei Kugeln mit einem.45er Kaliber aus einer Entfernung von weniger als fünf Metern in den Rücken verpasst bekam. Wenn das nicht ausreichte, sollte man es besser mit Kryptonit versuchen. Aber für einen toten Typen kam mir dieser hier recht lebendig vor.
Obwohl alles blitzschnell passierte, hatte ich genügend Zeit, um von dem Blick in seinen Augen überrascht zu sein. Trotz seiner verzerrten, wilden und gierigen Miene und dem schnappenden Gebiss wirkten seine Augen völlig ausdruckslos. Null Flackern der Erkenntnis, keine Spur von Selbsterkenntnis, noch nicht einmal das Feuer eines Hasses. Das war nicht das Starren eines unbeweglichen Auges wie zum Beispiel das eines Hais. Das hier war reif für eine Freak-Show. Der Mann gehörte auf den Rummel. Da war nichts. Es war, als ob ich in einen leeren Raum starren würde.
Ich glaube, das erfüllte mich mit mehr Horror als die schnappenden Zähne, die sich nur wenige Zentimeter vor meinem Adamsapfel befanden. Jetzt wusste ich, warum die anderen die Probe nicht bestanden hatten. Klein oder zierlich waren sie sicherlich auch nicht gewesen, eher so hünenhaft wie ich. Vielleicht hatten sie es sogar geschafft, sich ihn für eine gewisse Zeit vom Leib zu halten – lange genug, um in diese seelenlosen Augen zu starren. Aber spätestens dann musste es sie erwischt haben. Ich wusste nicht, ob Javad ihnen die Luftröhre
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