Patient Null
wirkte wie eine Hollywood-Buchhalterin oder die Leiterin irgendeiner hochnäsigen Werbeagentur.
»Haben Sie es gesehen?«, fragte Church.
Sie schloss die Tür hinter sich und warf einen Blick auf den Laptop, der vor Church auf dem Tisch stand. Der Deckel war heruntergeklappt, so dass neugierige Blicke keine Chance hatten. »Ja. Und ich bin alles andere als entzückt, einen Wiedergänger zu verlieren.« Sie besaß eine tiefe sonore Stimme mit einem Londoner Akzent. »Ich weiß, dass wir noch andere Exemplare haben, aber …«
Church winkte ungeduldig ab. »Grace, sagen Sie mir, wie Sie seine Fähigkeiten einschätzen, nachdem Sie jetzt beobachten konnten, wie er sich verhält?«
Sie setzte sich. »Positiv betrachtet, ist er hart im Nehmen, einfallsreich und verdammt gefährlich, aber das wussten wir ja bereits von den Videoaufnahmen aus der Lagerhalle. Er scheint auf jeden Fall robuster als alle andere Kandidaten zusammen zu sein.«
»Und was spricht gegen Ledger?«
»Schlampige Polizeiarbeit. In der Nacht vor dem Angriff haben zwei Laster die Lagerhalle verlassen. Der eine konnte verfolgt werden, der andere entkam. Ledger war an dieser Aktion beteiligt.«
»Ich bin mir sicher, dass das anders aussehen wird, wenn wir alle Akten der Taskforce in der Hand haben. Ledger hatte nichts damit zu tun.«
Grace warf ihm einen zweifelnden Blick zu.
»Gibt es noch weitere Bedenken?«, wollte Church wissen.
»Ich habe nicht den Eindruck, dass er ausgeglichen ist – emotional, meine ich.«
»Sind Sie sein psychologisches Profil durchgegangen?«
»Ja.«
»Das ist also nichts Neues.«
Sie schürzte die Lippen. »Er ist kein Jasager. Er wird nicht leicht zu kontrollieren sein.«
»Als Teamplayer haben Sie sicher Recht. Aber als Teamleader?«
Grace schnaubte. »Er war Sergeant in der Armee, hat weder Kampf- noch Einsatzerfahrung. Zudem war er Rangniedrigster in der Taskforce. Es wäre wohl ziemlich gewagt …« Grace hielt inne und lehnte sich zurück. Sie zog eine Augenbraue hoch. »Er gefällt Ihnen, nicht wahr?«
»Das ist irrelevant, Grace.« »Sind Sie wirklich der Meinung, dass er das Zeug zu einem Teamleader hat?«
»Das wird sich noch herausstellen.«
»Aber er hat Sie beeindruckt?«
»Sie nicht?«
Grace wandte sich ab und blickte durch die Scheibe in das andere Zimmer hinüber. Zwei Agenten in Schutzanzügen schnallten Javads Körper auf eine fahrbare Trage. Sie wandte sich wieder Church zu. »Was hätten Sie getan, wenn er gebissen worden wäre?«
»Er wäre in Raum zwölf gelandet. Wie die anderen vor ihm.«
»Einfach so?«
»Einfach so.«
Wieder wandte sie sich ab. Sie wollte nicht, dass Church die Abscheu in ihren Augen sah. Terror, Schock und Trauer zeigten sich auf ihrem Gesicht – Gefühle, die sie wie viele beim DMS empfand. Es war eine schreckliche Woche gewesen. Die schlimmste in ihrem bisherigen Leben.
»Und wie lautet Ihre Meinung?«, forderte Church sie erneut auf.
»Ich bin mir nicht sicher. Ohne weitere Informationen kann ich nicht mehr über ihn sagen. Die brauche ich, ehe ich ihm eine verantwortungsvolle Position anvertrauen kann. Nach dem Vorfall im Krankenhaus können wir uns es nicht leisten, unnötige Risiken einzugehen. Das gilt besonders für Teamleader.«
»Sagen wir mal, es wäre Ihre Entscheidung. Würden Sie ihn an Bord nehmen?«
Sie trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Vielleicht.«
Er schob den Teller mit Keksen in ihre Richtung. »Möchten Sie?«
Sie begutachtete die Vanillewaffeln und die Oreos und winkte dankend ab.
Church klappte seinen Laptop auf und drehte ihn so, dass beide den Bildschirm sehen konnten. »Passen Sie auf«, sagte er und drückte auf »Play«. Ein Video mit hoher Auflösung zeigte eine Gruppe von Männern in schwarzen Kampfanzügen, die rasch einen Korridor entlangliefen.
»Ist das die Lagerhalle?«, fragte Grace. »Das kenne ich schon.«
»Diese Szene kennen Sie noch nicht.«
Joe Ledger trat ins Bild, etwa zwanzig Meter von dem Mann entfernt, dessen Helmkamera das Video aufnahm. Ledger bemerkte, wie zwei seiner Kollegen von drei Gegnern hinter großen Kisten unter Beschuss genommen wurden. Der Kugelhagel beschädigte die Schutzschilder der Taskforce. Ledger näherte sich der feindlichen Gruppe von
hinten. Man würde ihn nur bemerken, wenn sich einer der Männer umdrehte. Er hielt seine schussbereite Pistole in der Hand, aber es wäre Selbstmord gewesen, bereits aus dieser Entfernung zu schießen. Vielleicht wäre es ihm gelungen,
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