Patient Null
Mudschahid stand.
Und dann geschah es. Auf einmal hatte Gault das Gefühl, von jemandem berührt zu werden. Wie zarte Finger, die ihm die Nackenhaare aufstellten. Er drehte sich um und sah einige Meter hinter ihm eine Frau. Sie starrte ihn an. Das erste Mal in seinem Leben fehlten ihm die Worte. Er war von ihren Augen in Bann geschlagen, von der
durchdringenden Intelligenz, die sich in ihnen widerspiegelte. Sie kam auf ihn zu – ihr Schritt sittsam, einer Muslima in einer Burka angemessen. Während die Menschenmenge an Saddams Lippen hing – der eine mitreißende Rede gab, in der er versprach, jeden Versuch der Amerikaner, in sein Land einzudringen, abzuwehren -, blieb die Frau vor Gault stehen und sagte: »Ich bin Amirah. Ich kann dich ins Paradies bringen.«
Unter anderen Umständen wäre dieser Spruch unangebracht gewesen, ja sogar peinlich. Für Gault aber war es der zuvor vereinbarte Code, auf den er schon seit Wochen gewartet hatte. Er war so überrascht, dass diese Frau seine Kontaktperson in Tikrit sein sollte, dass er beinahe seinen Erkennungsspruch vergessen hätte. Nach zwei oder drei Versuchen brachte er ihn schließlich heraus: »Und was werde ich dort sehen?«
Dann sagte sie drei Worte, die Gault vor Entzücken innerlich jubeln ließen. Sie kam noch näher und flüsterte: »Seif-al-Din.«
Seif-al-Din. Das Schwert der Gläubigen.
Gault musste an diese Szene denken, als Amirah jetzt das Zelt betrat. Er stand lächelnd auf. Am liebsten hätte er sie auf der Stelle in die Arme genommen und ihr diesen schrecklichen schwarzen Fetzen vom Leib gerissen. Er spürte deutlich, wie sie ihn innerlich dazu anfeuerte, während auch sie lächelte. Das Einzige, was er von ihrem Lächeln erkennen konnte, waren allerdings nur die Lachfältchen um ihre sinnlich braunen Augen. Er wusste, dass ihr Lächeln sowohl ein Versprechen als auch eine Zurückweisung bedeutete. Sie befanden sich in El Mudschahids Zelt. Es wäre mehr als töricht gewesen, sich hier gehen zu lassen. Hinter ihr standen zudem die zwei Wachleute, die ihn feindselig anstarrten.
»Mr. Gault«, sagte sie mit angemessen unterwürfiger Stimme. »Mein Mann hat mich beauftragt, Ihnen die Resultate
unserer Experimente zu zeigen. Würden Sie mir bitte in den Bunker folgen?«
»Ich habe nur wenig Zeit. Man erwartet mich bald in Bagdad …«
»Nur kurz, Mr. Gault. Mein Mann wünscht es so.« Sie betonte das Wort »wünscht« gerade genug, dass der Befehl, der dahintersteckte, unmissverständlich war. Hut ab, dachte er, als er merkte, wie sich die Wachen aufrichteten und ihn noch mürrischer anblickten. Das war wirklich ein erstklassiger Auftritt.
»Also gut«, erwiderte Gault und gab den schlechten Verlierer, indem er genervt seufzte.
Amirah drehte sich um und verließ das Zelt wieder. Die Wachen nahmen ihre Positionen ein. Einer stellte sich zwischen Amirah und Gault, der andere hinter den Ausländer, um eine mögliche Flucht zu vereiteln.
El Mudschahid war sehr vorsichtig – eine Eigenschaft, die Gault schätzte. Er folgte Amirah in ein anderes Zelt, das sich in der Nähe eines Felsvorsprungs befand. Es war mit aufwendigen Wandvorhängen geschmückt. Im Inneren wartete ein dritter Wachmann mit einer AK-47 und einer ausdruckslosen Miene. Amirah gab einen kurzen Befehl, und er trat zur Seite. Hinter ihm zog sie einen Wandteppich beiseite und enthüllte einen niedrigen Höhleneingang. Amirah, Gault und die zwei Wachen traten ein. Der Gang führte einige Meter geradeaus in den Felsen hinein, ehe er seitlich abbog. Dort befand sich eine Wand aus grob gehauenem grauen Granit, von der trockenes Moos hing. Die Männer gaben Gault ein Zeichen, dass er sich umdrehen solle. Er tat es, obwohl er sowieso wusste, was sich hinter seinem Rücken abspielen würde. Amirah griff in das Moos und zog an einem dünnen Draht. Es war eine geheime Vorrichtung, die man wahrscheinlich nie entdeckte, wenn man nicht wusste, wonach man suchte. Sie zog zweimal an dem Draht, wartete vier Sekunden lang und zog dann noch weitere dreimal.
Schließlich klappte ein Teil der rauen Wand herunter, um eine Computertastatur freizugeben. Amirah gab einen Code ein – eine zufällig erstellte Reihe aus Nummern und Buchstaben, die sich täglich änderte. Sobald das geschehen war, legte sie die Handfläche auf den dafür vorgesehenen Scanner. Laut El Mudschahid gab es nur zwei Menschen auf der Welt, die den Code kannten – er selbst und seine Frau. Doch da irrte er sich gewaltig. Gault kannte
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