Patria
fast nichts zurückschreckte und im Umgang mit einem Gewehr so geschickt war wie ein Scharfschütze. Cassiopeia hatte Stephanies verstorbenen Mann gut gekannt und tiefere Einblicke in Stephanies Privatleben gewonnen, als diese von sich aus jemandem gewährt hätte. Doch sie vertraute Cassiopeia. Das stand außer Frage, und Thorvaldsen hatte richtig gehandelt, als er Cassiopeia zu ihr geschickt hatte.
»Ich habe ein ernsthaftes Problem.«
»Das wissen wir mittlerweile.«
»Und Cotton steckt in Schwierigkeiten. Ich muss unbedingt Kontakt zu ihm aufnehmen.«
»Henrik hat noch nichts von ihm gehört. Malone hat gesagt, er ruft an, wenn er so weit ist, und Sie kennen ihn ja besser als jeder andere.«
»Wie geht es Gary?«
»Er ist ganz der Vater. Der Junge ist zäh, und bei Henrik ist er in Sicherheit.«
»Wo ist Pam?«
»Auf dem Weg nach Georgia. Sie ist mit Malone nach London geflogen und wollte von dort aus nach Hause.«
»Die Israelis sind auch in London. Sie haben ein Killerkommando geschickt.«
»Cotton ist kein Baby. Er wird damit klarkommen. Wir sollten uns darauf konzentrieren, was wir wegen Ihres Problems unternehmen.«
Stephanie hatte sich schon die ganze Zeit darüber Gedanken gemacht. Brent Green war persönlich da und hat uns befohlen, unseren Posten zu verlassen. Das mochte erklären, warum in der Nähe des Capitols keine Polizisten zu sehen gewesen waren, denn normalerweise stolperte man dort alle paar Meter über Sicherheitskräfte. Stephanie warf einen Blick aus dem Taxi und sah, dass sie sich in der Nähe des Dupont Circle und ihres Hotels befanden. »Wir müssen uns vergewissern, dass niemand uns folgt.«
»Vielleicht sollten wir die Metro nehmen.«
Stephanie war einverstanden.
»Wohin wollen wir?«, fragte Cassiopeia.
Sie beäugte den Umriss der unter Cassiopeias Jacke versteckten Luftpistole. »Haben Sie noch mehr von diesen Pfeilen, die die Leute in den Schlaf wiegen?«
»Massenhaft.«
»Dann weiß ich, wohin wir jetzt gehen.«
29
London
19.30 Uhr
Malone betrachtete Pam im Schlaf; er saß auf einem Stuhl am Fenster des Hotelzimmers und hielt George Haddads Tasche auf seinem Schoß. Er hatte recht behalten: Pam hatte wie wild aufs Handtuch gebissen, als er die Wunde mit dem Desinfektionsmittel auswusch. Tränen waren ihr in die Augen gestiegen, doch sie hatte tapfer durchgehalten und lautlos die schlimmen Schmerzen ertragen. Sie hatte ihm leidgetan, und er hatte ihr in der Boutique in der Hotel-Lobby eine neue Bluse besorgt.
Auch er war müde, doch das, was er seine »Agentennerven« nannte, versorgte seinen Körper mit einer unmäßigen Energie. Er konnte sich an Zeiten erinnern, in denen er tagelang nichts gegessen hatte und in denen sein Körper so mit Adrenalin vollgepumpt gewesen war, dass er sich nur darauf hatte konzentrieren können, am Leben zu bleiben und seinen Auftrag zu erledigen. Er hatte geglaubt, dass er diese Art Zustand nie wieder zu erleben brauchte. Dass er dieses Leben ein für alle Mal hinter sich gelassen hätte.
Doch jetzt war es so weit.
Er steckte wieder mittendrin.
Er hätte die letzten Stunden für einen grässlichen Albtraum halten können, wenn die Bilder nicht immer wieder in quälender Schärfe vor seinem inneren Auge ablaufen würden. Sein Freund George Haddad war vor seinen Augen erschossen worden. Leute mit großen Plänen waren hinter etwas Bedeutendem her. Zu jeder anderen Zeit hätte er gesagt, dass ihn das nichts anging. Doch einige dieser Leute hatten seinen Sohn entführt und sein Antiquariat in die Luft gesprengt. Und deswegen ging ihn die Sache mittlerweile verdammt viel an.
Er war den Typen etwas schuldig.
Und wie sein Freund Haddad hatte er vor, seine Schulden zu begleichen.
Aber er musste mehr wissen.
Sowohl vor als auch nach dem Auftauchen der Israelis hatte Haddad sich auf geheimnisvolle Andeutungen beschränkt. Schlimmer noch, er war nicht mehr dazu gekommen, Malone zu berichten, was ihm vor einigen Jahren aufgefallen war und was genau die Israelis zu dem Mord veranlasst haben musste. In der Hoffnung, dass die Ledertasche auf seinem Schoß die Antwort auf seine Fragen enthielt, öffnete Malone die Verschlüsse und zog ein Buch, drei Notizbücher und vier Landkarten hervor.
Das Buch war ein Band aus dem achtzehnten Jahrhundert mit einem Einband aus geprägtem Leder, der so spröde war wie eine von der Sonne gegerbte Haut. Die Buchstaben auf dem Titel waren unlesbar, weswegen Malone den Buchdeckel behutsam aufklappte und das
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