Patterson James
Spannweite, hellbraun mit weißen Streifen und
einigen braunen Flecken wie Sommersprossen. Sie fingen die
Luft ein. Plötzlich wurde ich nach oben gerissen, als hätte sich
soeben ein Fallschirm geöffnet. Booo!
Anmerkung an mich: Plötzliches Entfalten vermeiden!
Ich drückte mit aller Kraft die Flügel nach unten, dann wieder
etwas hoch und wieder hinunter.
O mein Gott! Ich flog – genau wie ich es immer geträumt
hatte.
Der Boden der Klippe lag im Schatten und verschwand unter
mir. Ich lachte und schwang mich hoch hinauf. Ich spürte, wie
meine Muskeln mich emporzogen und wie die Luft durch meine
Deckfedern pfiff. Die Brise trocknete den Schweiß auf meiner
Stirn.
Ich flog oben am Rand der Klippe vorbei, vorbei an den
verblüfften Hunden und den wütenden Erasern.
Einer von ihnen, mit behaartem Gesicht und triefenden
Fängen, hob ein Gewehr. Auf meinem zerfetzten Nachthemd
erschien ein roter Lichtpunkt. Heute nicht, du Wichser!, dachte
ich und flog eine Steilkurve nach Westen, damit ihre
hasserfüllten Augen von der Sonne geblendet würden.
Heute werde ich nicht sterben.
I
ch schoss im Bett hoch, rang nach Luft und legte die Hand
auf mein Herz.
Unwillkürlich untersuchte ich mein Nachthemd. Kein roter
Laserpunkt. Keine Einschusslöcher. Erleichtert sank ich zurück
aufs Bett.
O Mann, ich hasste diesen Traum. Er war immer gleich: von
der Schule weglaufen, Eraser und Hunde verfolgen mich, dann
stürze ich über eine Klippe und dann – wusch – plötzlich entfalte
ich Flügel und fliege und entkomme. Wenn ich aufwachte,
fühlte ich mich immer höchstens eine Sekunde vom Tod
entfernt.
Anmerkung an mich: Mach dem Unterbewusstsein Mut wegen
schönerer Träume.
Mir war kalt, aber ich zwang mich, das gemütliche warme Bett
zu verlassen. Ich zog einen sauberen Jogginganzug an –
erstaunlich, Nudge hatte die dreckige Wäsche weggeräumt.
Alle anderen schliefen noch. Ich konnte ein paar ruhige
Minuten genießen und mich auf den Tag vorbereiten.
Auf dem Weg in die Küche blickte ich kurz durch die Fenster
auf dem Korridor. Diesen Anblick liebte ich: die Morgensonne,
die gerade über die Berggipfel stieg, den klaren Himmel, die
tiefen Schatten, die Tatsache, dass ich keinen anderen Menschen
sah.
Wir waren hoch oben im Gebirge, nur ich und meine Familie.
Und wir waren hier sicher.
Unser Haus war gebaut wie ein auf die Seite gelegtes E. Die
Balken des E standen auf Stelzen über einem tiefen Canyon.
Wenn ich aus dem Fenster schaute, hatte ich das Gefühl zu
schweben. Auf einer »coolen« Skala von eins bis zehn war
dieses Haus locker fünfzehn.
Hier konnten meine Familie und ich wir selbst sein. Hier
konnten wir frei leben. Ich meine buchstäblich frei, so wie nicht
in Käfigen.
Lange Geschichte. Später mehr.
Und dann natürlich das Beste: keine Erwachsenen. Als wir
hierher zogen, hatte Jeb Batchelder für uns gesorgt wie ein
Vater. Er hatte uns gerettet. Keiner von uns hatte Eltern, aber
Jeb war fast ein Vater gewesen.
Vor zwei Jahren war er verschwunden. Ich wusste, dass er tot
war. Wir alle wussten das, aber wir redeten nicht darüber. Jetzt
waren wir auf uns gestellt.
Jawohl, niemand sagte uns, was wir tun oder was wir essen
oder wann wir ins Bett gehen sollten. Na ja, abgesehen von mir.
Ich bin die Älteste, deshalb versuche ich für eine gewisse
Ordnung zu sorgen, soweit ich das kann. Es ist ein harter
undankbarer Job, aber jemand muss ihn tun.
Wir gehen auch nicht zur Schule. Dem Himmel sei Dank für
das Internet, weil wir sonst von absolut nichts Ahnung hätten.
Aber keine Schulen, keine Ärzte, keine Sozialarbeiter klopfen
an unsere Tür. Es ist ganz einfach: Solange niemand von uns
weiß, bleiben wir am Leben.
Ich suchte in der Küche nach etwas Essbarem, als ich hinter
mir schlurfende Schritte hörte.
»Morgen, Max.«
M
orgen, Gasi«, sagte ich, als sich der Achtjährige mit
schlaftrunkenen Augen am Tisch niederließ. Ich
massierte ihm den Rücken und gab ihm einen Kuss auf den
Kopf. Seit er ein Baby war, war er der Gasman. Was kann ich
sagen? Bei diesem Kind stimmte etwas nicht mit der
Verdauung. Ein guter Rat: Gib Acht, dass du den Wind im
Rücken hast.
Der Gasman blickte mich an. Seine großen blauen Augen
waren rund und voll Vertrauen. »Was gibt’s zum Frühstück?«,
fragte er und setzte sich. Sein feines blondes Haar klebte an
seinem Kopf und erinnerte mich an die Daunen eines gerade
flügge gewordenen Vogels.
»Hm, ist ’ne Überraschung«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher