Patterson James
beruhigen. Es war ein wenig
gönnerhaft – aber na und?
Ich erzählte ihm, welchen Schreck die Kinder mir eingejagt
hatten, als sie eines nach dem anderen aus den Bäumen
gesprungen waren, während ich mit Pip spazieren gegangen
war. Dann berichtete ich, warum die Kinder von ihren Eltern
geflüchtet waren. Wie ich die Kerle in Bear Bluff überlistet
hatte, indem ich die Hütte, meinen einzigen Besitz auf dieser
Welt, in Brand gesteckt hatte. Kit sah mich voller Zuneigung an,
und um seine Lippen spielte ein Lächeln. Als ich unsere Flucht
durch die Schlucht nach unten beschrieb und schließlich die
sechshundert Kilometer lange Fahrt hierher in das Pines
Bungalow Motel, lachte er laut auf.
»Jesses!«, sagte er mit einem breiten Grinsen. »Du bist echt
besser als Scully!«
»Bin ich das? Ja, nicht wahr?«
Ich mochte es sehr, wenn Kit so lächelte. Ich grinste zurück,
und vielleicht berührte ich sein langes blondes Haar für ein paar
Sekunden zu lang. Ich liebte dieses Haar. Verlier nicht die
Kontrolle, Frannie! Sei einfach weiter Scully!
»Die Kinder werden erwachsen«, sagte er. »Oz ist schon fast
ein richtiger Mann. Hat er dir seine Tattoos gezeigt?«
Ich nickte. »Es hat ihnen gut getan, draußen in der Welt zu
leben. Icarus kann bereits drei Sprachen, und er erfindet gerade
eine eigene. Oz ist unser Fachmann für Ornithologie. Ich glaube,
es ist seine Version von Roots, dass er jedes Vogelbuch liest, das
irgendwo irgendwann auf der Welt einmal geschrieben wurde.«
»Und Max? Was macht sie?«
»Hm. Sie ist immer noch die Anführerin, der Mutterersatz für
die anderen. Vielleicht wird sie eines Tages eine Lehrerin. Eine
Professorin.«
Kit lächelte mich erneut an. »Was ich wissen will – hat Max
dir nicht erzählt, was vorgeht? Ich nehme an, sie weiß sehr
wohl, was das alles zu bedeuten hat. Max scheint immer eine
Menge mehr zu wissen, als sie bereit ist einzugestehen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Max redet nicht. Was machen
wir nun?«
Kit wurde ernst. »Zuerst die wichtigen Sachen«, sagte er. »Ich
denke, wir müssen als Erstes ein paar Prioritäten setzen.«
»Beispielsweise?«
»Beispielsweise bestellen wir jetzt drei oder vier große Pizzas
mit allem Drum und Dran.«
Ich nickte. »Und dann?«
»Dann werde ich mich unter vier Augen mit Max unterhalten.«
Und genau das taten sie dann auch. Gemüsepizzas, gefolgt von
einem ernsten Gespräch unter vier Augen.
Max saß neben Kit auf einem niedrigen Zweig einer alten
Fichte in den nahe gelegenen Wäldern. Der Bund ihrer Jeans saß
angenehm straff vom Essen, das sie eben erst in sich
hineingestopft hatte. Sie liebte diese Vier-Augen-Gespräche mit
Kit.
Sie erzählte ihm vom Leben in Pine Bush und darüber, wie
schwer es ihr und Matthew fiel, mit den normalen Leuten
klarzukommen. Sie erinnerte sich an mehr als fünfzig Namen,
die die Kinder für sie erfunden hatten und hinter ihrem Rücken
benutzten. Max berichtete weiter, dass die Lügengeschichten in
den verschiedensten Nachrichtensendungen und Zeitungen sie
verletzt hätten. »Ich wollte einfach nur dazugehören, weißt du«,
sagte sie. »Ist das denn zu viel verlangt?«
Kit schien sie zu verstehen. Er verstand ihre Probleme fast
immer.
»Du hast eine Menge am Hals, Kleine«, entgegnete er. »Und
du schlägst dich großartig. Ich bin wirklich stolz auf dich.
Frannie übrigens auch.«
Max nickte, doch sie hatte Kit noch nicht die Hälfte von dem
gesagt, was sie bedrückte. Sie hatte ihm nicht verraten, dass sie
ununterbrochen in Alarmbereitschaft lebte, ständig auf alles
Ungewöhnliche achtete, auf jedes auffällige Geräusch, oder dass
sie sicher war, man würde versuchen, sie und die anderen
Kinder zu entführen oder vielleicht sogar zu ermorden,
wahrscheinlich eher früher als später.
Max hatte sich ihre gegenwärtige Position topographisch
vorgestellt. Ein rascher Überflug hatte ihr ein Gefühl für die
Ausdehnung der Hügellandschaft vermittelt sowie die Höhe der
Bäume, die Windgeschwindigkeit und die Temperaturen im
Mikroklima des Waldes. Die Gegend erinnerte sie stark an die
Berge rings um Lake House. Auch darüber hatte sie mit Kit
gesprochen. Bis es Max schließlich zu bunt geworden war.
»Genug von der albernen Nostalgie, Kit«, sagte sie.
Dann hatten sie schweigend dagesessen.
Max’ Gehör registrierte jedes Geräusch in der Umgebung, eine
dichte Symphonie aus Verkehrslärm und den Stimmen des
Waldes. Sie hörte sogar Frannie im Bungalow
Weitere Kostenlose Bücher