Patterson, James - Alex Cross 02 - Denn Zum Küssen Sind Sie Da
Wenigstens war sie nicht tot. Plötzlich erinnerte sie sich daran, daß ihr direkt in die Brust geschossen worden war. Sie erinnerte sich an den Eindringling. Groß… langes Haar… angenehme Stimme im Konversationston… ein Tier.
Sie versuchte aufzustehen, überlegte es sich aber sofort anders. »Uff«, sagte sie laut. Ihre Kehle war trocken, ihre Stimme klang krächzend, als sie häßlich in ihrem Kopf widerhallte. Ihre Zunge fühlte sich an, als müßte sie rasiert werden. Ich bin in der Hölle. In einem Kreis aus Dantes Inferno, mit einer ganz niedrigen Zahl, dachte sie, und sie zitterte. Alles an dem Augenblick war zum Fürchten, aber es war so entsetzlich und so unerwartet, daß sie sich nicht orientieren konnte. Ihre Glieder waren steif und taten weh; sie hatte am ganzen Körper Schmerzen. Sie bezweifelte, daß sie jetzt fünfzig Kilo stemmen könnte. Ihr Kopf kam ihr riesig vor, aufgedunsen wie vergammeltes Obst, und er tat weh, aber sie konnte sich lebhaft an den Angreifer erinnern. Er war groß, vielleicht eins neunzig, noch jung, extrem stark, wortgewandt. Die Bilder waren verschwommen, aber sie war sich absolut sicher, daß sie der Wahrheit entsprachen. Sie erinnerte sich an noch etwas von dem ungeheuerlichen Überfall in ihrer Wohnung. Er hatte ein Betäubungsgewehr oder irgend etwas in der Art benützt, um sie zu lahmen. Er hatte außerdem Chloroform benützt oder vielleicht Halothan. Das konnte die Ursache ihrer quälenden Kopfschmerzen sein. Die Lichter im Raum waren absichtlich angelassen worden. Ihr fiel auf, daß sie aus modernen, in die Decke eingebauten Dimmerlampen kamen. Die Decke war niedrig, möglicherweise keine zwei Meter hoch.
Der Raum sah aus, als wäre er erst vor kurzem gebaut oder umgebaut worden. Er war geschmackvoll eingerichtet, so wie sie vielleicht ihre Wohnung gestaltet hätte, mit Geld und Zeit… Ein Messingbett. Eine antike weiße Kommode mit Messinggriffen. Ein Frisiertisch mit Silberbürste, Kamm, Spiegel. An die Bettpfosten waren bunte Schals gebunden, genau wie bei ihr zu Hause. Das kam ihr seltsam vor. Sehr merkwürdig. Der Raum hatte keine Fenster. Der einzige Ausgang schien eine schwere Holztür zu sein.
»Hübsche Einrichtung«, murmelte Kate leise. »Früher Wahnsinn. Nein, moderner Wahnsinn.«
Die Tür eines kleinen Schranks stand halb offen; Kate konnte hineinschauen. Von dem, was sie sah, wurde ihr schlecht. Er hatte ihre Kleider an diesen grauenhaften Ort gebracht, in diese bizarre Gefängniszelle. Alle ihre Kleider waren da. Mit dem Rest ihrer Kraft zwang sich Kate McTiernan, sich im Bett aufzusetzen. Von der Anstrengung raste ihr Herz, und das Hämmern in ihrer Brust machte ihr angst. Ihre Arme und Beine fühlten sich an, als wären Gewichte daran festgebunden.
Sie konzentrierte sich stark, versuchte, die unglaubliche Szene klar in den Blick zu bekommen. Sie schaute weiter in den Schrank.
Sie begriff, daß es gar nicht ihre Kleider waren. Er hatte Kleider genau wie die ihren gekauft! Genau nach ihrem Geschmack, in ihrem Stil. Die Kleider im Schrank waren ladenneu. Sie sah einen Teil der Etiketten, die von den Blusen und Röcken baumelten. The Limited. The Gap in Chapel Hill. Läden, in denen sie auch einkaufte. Ihr Blick ging schnell zu der weißen Kommode auf der anderen Seite des Raums. Auch ihre Parfüms waren da. Obsession. Safari. Opium.
Das hatte er alles für sie gekauft, nicht wahr? Neben dem Bett lag ein Exemplar von All die schönen Pferde, das Buch, das sie in der Franklin Street in Chapel Hill gekauft hatte. Er weiß alles über mich!
26. Kapitel
Dr. Kate McTiernan schlief. Wachte auf. Schlief wieder. Sie machte Witze darüber. Nannte sich einen Faulpelz. Sie verschlief nie. Jedenfalls nicht mehr, seit sie mit dem Medizinstudium angefangen hatte.
Sie hatte das Gefühl, einen klareren Kopf zu haben und wacher zu sein, sich besser im Griff zu haben, bis auf die Tatsache, daß sie das Zeitgefühl verloren hatte. Sie wußte nicht, ob es Morgen war, Mittag oder Nacht. Nicht einmal, welcher Tag es war. Der Mann, wer auch immer das Schwein sein mochte, war in dem geheimnisvollen, ekelhaften Zimmer gewesen, während sie geschlafen hatte. Bei dem Gedanken wurde ihr übel. Auf dem Nachttisch, wo sie ihn nicht übersehen konnte, lehnte ein Brief an der Wand.
Es war ein handgeschriebener Brief. Liebe Kate, las sie. Ihre Hände zitterten, als sie ihren Namen sah.
Ich will, daß Du das liest, damit Du mich besser verstehst und außerdem die Regeln
Weitere Kostenlose Bücher