Patterson, James - Alex Cross 02 - Denn Zum Küssen Sind Sie Da
aufgefressen von Vögeln und anderen Tieren im Wald bei Elfland aufgefunden worden war, war auch einmal eine schöne Blondine gewesen. Ich fragte mich, ob der Mörder auch hinter Mary Ellen Klouk her gewesen sei. Warum hatte er Naomi ausgewählt? Wie traf er die endgültige Entscheidung? Wie viele Frauen waren bis jetzt ausgewählt worden?
»Hallo, Alex. O Mann, bin ich froh, daß Sie hier sind.«
Mary Ellen nahm meine Hand und drückte sie fest. Ihr Anblick brachte schöne, aber auch schmerzliche Erinnerungen mit sich. Wir beschlossen, das Wohnheim zu verlassen und auf den weiten Grünflächen des West Campus spazierenzugehen. Ich hatte Mary Ellen immer gemocht. Auf dem College waren ihre Hauptfächer Geschichte und Psychologie gewesen. Ich erinnerte mich daran, daß wir uns an einem Abend in D. C. über Psychoanalyse unterhalten hatten. Sie wußte über seelische Traumata fast soviel wie ich. »Tut mir leid, daß ich nicht da war, als Sie nach Durham gekommen sind«, sagte sie, als wir zwischen eleganten neugotischen Gebäuden aus den zwanziger Jahren nach Osten gingen. »Mein Bruder hatte am Freitag die Abschlußfeier der HighSchool. Der kleine Ryan Klouk. Dabei ist er über eins neunzig. Wiegt mindestens zwei Zentner. Leadsänger der Scratching Blackboards. Ich bin heute morgen zurückgekommen, Alex.«
»Wann haben Sie Naomi zum letzten Mal gesehen?« fragte ich Mary Ellen, als wir eine hübsche Straße namens Wannamaker Drive erreichten. Es kam mir völlig verdreht vor, mit Naomis Freundin zu reden wie ein Polizist von der Mordkommission, aber ich mußte es tun.
Die Frage tat Mary Ellen weh. Sie holte tief Luft, ehe sie antwortete. »Vor sechs Tagen, Alex. Wir sind gemeinsam nach Chapel Hill gefahren. Wir haben dort für Habitat für die Menschheit gearbeitet.«
Habitat für die Menschheit war eine Bürgerinitiative, die Häuser für die Armen renovierte. Naomi hatte nicht erwähnt, daß sie freiwillig für die Gruppe arbeitete. »Haben Sie Naomi danach noch einmal gesehen?« fragte ich.
Mary Ellen schüttelte den Kopf. Die baumelnden Goldglöckchen an ihrem Hals bimmelten leise. Ich hatte plötzlich das Gefühl, sie wolle mich nicht ansehen.
»Leider war es das letzte Mal. Ich habe die Polizei benachrichtigt. Ich habe herausbekommen, daß sie in den meisten Vermißtenfällen vierundzwanzig Stunden lang warten. Naomi war fast zweieinhalb Tage verschwunden, ehe die Meldung veröffentlicht wurde. Wissen Sie, warum?« fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf, aber vor Mary Ellen wollte ich kein Riesentheater machen. Ich wußte immer noch nicht genau, warum den Fall so viel Geheimhaltung umgab. Ich hatte an jenem Morgen mehrmals versucht, Detective Nick Ruskin zu erreichen, aber er hatte nicht zurückgerufen.
»Glauben Sie, daß Naomis Verschwinden etwas mit den anderen Frauen zu tun hat, die in letzter Zeit verschwunden sind?« fragte Mary Ellen. Schmerz lag in ihren blauen Augen. »Es könnte eine Verbindung geben. Es gab jedoch keine Spuren in den Sarah Duke Gardens. Ehrlich gesagt, es gibt so gut wie keine Anhaltspunkte, Mary Ellen.« Falls Naomi aus einem öffentlichen Park auf dem Campus entfuhrt worden war, gab es dafür keine Zeugen. Sie war eine halbe Stunde, ehe sie eine Vorlesung über Vertragsrecht versäumte, im Park gesehen worden. Casanova machte das, was er tat, furchterregend gut. Er war wie ein Geist. Wir schlössen unseren Spaziergang ab, kamen an den Ausgangspunkt zurück. Das Wohnheim stand zwanzig bis dreißig Meter zurückversetzt von einem gekiesten Weg. Es war mit hohen weißen Säulen versehen, und auf der großen Veranda standen leuchtendweiße Schaukelstühle und Tische aus Korb. Aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, eine meiner Lieblingsepochen. »Alex, Naomi und ich haben uns in letzter Zeit nicht besonders gut verstanden«, vertraute mir Mary Ellen plötzlich an. »Es tut mir leid. Ich habe gedacht, Sie sollten das wissen.« Mary Ellen weinte, als sie sich zu mir beugte und mich auf die Wange küßte. Dann lief sie die gebohnerte, weißgestrichene Treppe hinauf und verschwand im Haus. Noch ein besorgniserregendes Rätsel, das ich lösen mußte.
22. Kapitel
Casanova beobachtete Dr. Alex Cross. Sein schneller, scharfer Verstand schnurrte wie ein hochentwickelter Computer – möglicherweise der schnellste Computer im ganzen Forschungsdreieck.
Schau dir Cross an, murmelte er. Besucht Naomis alte Freundin! Da können Sie nichts finden, Herr Doktor. Noch nicht mal warm. Es wird
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