Patterson, James - Alex Cross 03 - Sonne, Mord und Sterne
Leben wieder normal verlaufen. Ich schwor, dass es diesmal so sein würde.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf, um Damon zur Sojourner Truth School zu bringen. Auch dort war fast alles wieder im Lot. Unschuld hat ein kurzes Gedächtnis. Ich schaute in Christine Johnsons Büro, aber sie war noch nicht wieder zum Dienst erschienen.
Niemand wusste, wann sie in die Schule zurückkommen würde, aber alle vermissten sie wie ein Heilmittel gegen die Grippe. Ich auch, ich auch. Sie hatte etwas Besonderes an sich. Ich hoffte, sie würde sich wieder fangen.
Um Viertel vor neun war ich wieder zu Hause. Das Haus an der Fünften Straße war unglaublich still und friedlich. Richtig angenehm. Ich legte Billie Holiday auf: angenehm. Ich legte Billie Holiday auf: 1958 . Eines meiner absoluten Lieblingsstücke.
Gegen neun Uhr klingelte das Telefon. Dieser verfluchte, teuflische Apparat.
Es war Jay Grayer. Ich konnte mir nicht vorstellen, weshalb er mich zu Hause anrief. Beinahe wollte ich den Grund seines Anrufs gar nicht hören.
»Alex, Sie müssen zum Lorton Jail kommen.« Seine Stimme klang drängend. »Bitte, kommen Sie gleich jetzt.«
112.
Ich überschritt jede Geschwindigkeitsbeschränkung auf dem Weg zum Bundesgefängnis in Virginia. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich befürchtete, dass er abheben und durch die Windschutzscheibe sausen würde. Als Detective bei der Mordkommission muss man sich für psychisch stark halten und der Überzeugung sein, dass man fast alles einstecken kann, was aufgetischt wird; aber früher oder später stellt man fest, dass man es nicht kann. Niemand kann das.
Ich war schon mehrmals im Lorton Jail gewesen. Der Kidnapper und Serienmörder Gary Soneji hatte dort mal im Hochsicherheitstrakt gesessen.
Gegen zehn Uhr traf ich ein. Es war ein kühler Morgen mit blauem Himmel. Auf dem Parkplatz und dem Rasen daneben warteten etliche Reporter, als ich vorfuhr.
»Was können Sie uns sagen, Dr. Cross?«, fragte mich einer.
»Ein wunderschöner Morgen«, antwortete ich. »Sie können mich gern wörtlich zitieren.«
In diesem Gefängnis saßen die Sterlings ein. Die Regierung hatte beschlossen, sie hier in Untersuchungshaft zu lassen, bis das Gerichtsverfahren wegen des Mordes an Thomas Byrnes eröffnet würde.
Alex, Sie müssen ins Lorton Jail kommen. Bitte, kommen Sie gleich jetzt.
Ich traf Jay Grayer im dritten Stock des Gefängnisses. Auch Gefängnisdirektor Marion Campbell war da. Die beiden waren so blass wie der Rauputz an den Wänden des Knastgebäudes.
»Ach, Alex, verflucht «, stöhnte Dr. Campbell, als er mich kommen sah. Wir gingen ein Stück weiter. Ich drückte ihm kräftig die Hand. »Gehen wir nach oben«, sagte er.
Vor einem Untersuchungsraum im vierten Stock standen Polizisten und Gefängnispersonal. Hinter dem Direktor und seinen engsten Mitarbeitern betraten Grayer und ich das Zimmer. Mir war das Herz fast im Hals stecken geblieben.
Wir mussten uns blauen Mundschutz umbinden und durchsichtige Plastikhandschuhe überstreifen. Uns fiel das Atmen schwer, auch ohne Masken.
»Verdammt!«, stieß ich hervor, als wir den Raum betraten.
Jeanne und Brett Sterling waren tot. Splitternackt lagen sie auf stählernen Tischen. Das Licht der Lampen darüber war grell und hart und blendete furchtbar.
Die ganze Szene überstieg mein Vorstellungsvermögen – und das eines jeden anderen.
Jack und Jill waren tot.
Jack und Jill waren in einem Bundesgefängnis ermordet worden.
»Verdammt! Zur Hölle mit den beiden!«, stieß ich hinter meinem Mundschutz hervor.
Brett Sterling war gut gebaut und wirkte selbst im Tod noch kräftig. Ich konnte mir ihn gut als Sara Rosens Liebhaber vorstellen. Mir fiel auf, dass seine Fußsohlen schmutzig waren. Wahrscheinlich war er die ganze Nacht barfuß in der Zelle auf und ab gelaufen. Hatte er auf jemanden gewartet?
Wer war ins Lorton eingedrungen und hatte das getan? Waren die Sterlings ermordet worden? Was, um Himmels willen, war passiert? Wie konnte so etwas im Hochsicherheitstrakt geschehen?
Jeanne Sterlings Haut war teigig weiß. Sie war in keiner guten körperlichen Verfassung. In ihren maßgeschneiderten grauen und blauen Kostümen hatte sie besser ausgesehen als jetzt. Tot und nackt.
Über dem schwarzen Schamhaar war eine weiche Speckrolle. Ein Netz aus Krampfadern überzog ihre Beine. Sie hatte aus der Nase geblutet, entweder vor oder beim Sterben.
Keiner der Sterlings schien sehr gelitten zu haben. War das ein brauchbarer Hinweis
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