Patterson, James - Alex Cross 03 - Sonne, Mord und Sterne
trug sie genau um halb neun nach oben ins Bett. Im Haus der Cross’ herrschten Gesetz und Ordnung über das Chaos.
»Wo gehen wir hin, Daddy?«, fragte sie kichernd an meinem Hals. »Holen wir ein Eis? Ich möchte Bonbons und Eis.«
»In deinen Träumen.«
Als ich Jannie fest in den Armen hielt, musste ich unwillkürlich an Shanelle Green denken. Beim Anblick von Shanelle auf dem Schulhof hatte ich Angst bekommen, weil ich an Jannie gedacht hatte. Es war ein schlimmer Kreislauf, der sich ständig in meinem Kopf wiederholte.
Ich lebte in Angst, dass die menschlichen Ungeheuer in unser Haus kommen könnten. Vor mehreren Jahren war eines gekommen. Gary Soneji. Damals wurde niemand verletzt. Wir hatten großes Glück gehabt.
Jannie und ich hatten uns ein Gebet ausgedacht, das wir beide mochten. Sie kniete neben dem Bett und sprach die Worte wunderschön, ganz leise.
»Lieber Gott, meine Grandma und mein Daddy haben mich lieb. Sogar Damon. Vielen Dank, lieber Gott, dass du mich zu einem netten Menschen gemacht hast, zu einem hübschen und manchmal auch komischen Mädchen. Ich will immer versuchen, das Richtige zu tun. Und damit sagt Jannie Cross dir gute Nacht.«
»Amen, Jannie Cross«, fügte ich hinzu und lächelte mein kleines Mädchen an. Ich liebte sie mehr als mein Leben. Jannie erinnerte mich an die besten Seiten ihrer Mutter. »Ich sehe dich morgen früh. Ich kann es kaum erwarten.«
Jannie grinste. Ihre Augen waren plötzlich ganz groß. Sie setzte sich im Bett auf. »Du kannst mich heute Abend noch länger sehen. Lass mich einfach länger aufbleiben«, sagte sie. »Ich schreie nach einem Eis.«
»Du bist wirklich komisch.« Ich gab ihr einen Gute-NachtKuss. »Und hübsch und gescheit.« Mann, ich liebte sie und Damon so sehr. Ich wusste, dass der Kindermörder mir deshalb so unter die Haut gegangen war. Dieser Wahnsinnige hatte zu nahe an unserem Haus zugeschlagen.
Vielleicht war das der Grund dafür, dass Damon und ich später noch einen kleinen Spaziergang machten. Ich legte den Arm um die Schultern meines Sohnes. Es kam mir so vor, als würde er mit jedem Tag ein bisschen größer, stärker und härter. Wir waren gute Kumpel, und ich war froh, dass bis jetzt alles so prima gelaufen war.
Wir schlenderten in die Richtung von Damons Schule. Unterwegs kamen wir an der Baptistenkirche vorbei, an deren Wände bösartige dunkelrote und schwarze Graffiti gesprüht waren: Ich scheiß auf Jesus, weil Jesus auch auf mich scheißt. Diese Meinung war in unserer Gegend sehr verbreitet, besonders unter den Jungen und Ruhelosen.
Eine Schulkameradin Damons war ermordet worden. Was für eine schreckliche Tragödie. Dabei hatte der Junge bereits so viel Gewalt gesehen. Damon war Augenzeuge gewesen, als auf der Straße ein junger Mann einen anderen wegen eines Parkplatzes niedergeschossen hatte. Damals war er erst sechs Jahre alt gewesen.
»Hast du in der Schule schon mal Angst gehabt? Sag mir die Wahrheit. Es ist besser, wenn du mir sagst, was du wirklich fühlst, Damon«, forderte ich ihn freundlich auf. »Ich habe auch manchmal Angst. Beavis und Butthead machen mir Angst. Und auch Ren und Stimpy.«
Damon lächelte und zuckte mit den Schultern. »Ja, manchmal hab ich Angst. Am ersten Tag, nachdem das Mädchen ermordet wurde, habe ich gezittert. Aber unsere Schule schließt doch nicht, oder?«
Innerlich grinste ich, nach außen hin verzog ich keine Miene. »Nein, morgen ist Unterricht wie immer. Und auch die Hausaufgaben ...«
»Hab ich schon gemacht«, verteidigte sich Damon. Nana hatte wegen Damons Noten etwas zu empfindlich reagiert, aber das war wohl nicht weiter schlimm. »Ich krieg fast immer nur Einser, genau wie du.«
»Fast immer nur Einser?« Ich lachte. »Was ist das denn für ein Satz?«
»Genau.« Er grinste wie eine junge Hyäne, der man in der Serengeti soeben einen guten Witz erzählt hat.
Ich packte Damons Kopf mit einem lockeren Nelsongriff und fuhr ihm spielerisch mit den Fingerknöcheln über das kurze Haar. Im Moment ging es ihm gut. Er war stark und ein netter kleiner Kerl. Ich liebe ihn wie verrückt und möchte, dass er das immer weiß.
Damon entwand sich dem Griff und tanzte elegant wie Sugar Ray Leonard: zwei Schritte hin, zwei Schritte her. Dabei versetzte er mir probeweise mehrere schnelle Schläge in die Magengrube. Er zeigte mir, was für ein zäher kleiner Welpe er war. Daran zweifelte ich auch nicht.
In diesem Moment sah ich, wie jemand das Schulgebäude verließ. Es war
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