Patterson, James - Alex Cross 03 - Sonne, Mord und Sterne
abzuschätzen. Und wenn ich recht verstanden habe, ist das organisierte Verbrechen über meine Programme auch nicht allzu erfreut. Und diese Leute sind heutzutage weit besser organisiert als je zuvor. Ich fordere ein sehr abgewirtschaftetes, aber sehr altes und mächtiges System heraus – und das gefällt diesem abgewirtschafteten System ganz und gar nicht. Die Kennedys haben das auch getan, besonders Robert Kennedy.«
Plötzlich bekam ich nur noch mühsam Luft. »Wer sonst noch, Mr. Präsident? Ich muss alle Ihre Feinde kennen.«
»Helene Glass ... die Senatorin ... ist eine Feindin ... Einige der reaktionären Konservativen im Senat und im Repräsentantenhaus sind Feinde ... Ich glaube ... Vizepräsident Mahoney ist auch ein Feind ... jedenfalls beinahe. Ich habe vor der Wahlversammlung einen Kompromiss gemacht, um Mahoney auf die Liste zu bekommen. Er sollte Florida und andere Teile des Südens auf meine Seite bringen. Er hat sie auf meine Seite gebracht. Als Gegenleistung sollte ich bei einigen seiner Gönner eine gewisse Nachsicht zeigen. Das habe ich nicht getan. Ich lege mich mit dem System an – und das darf man nicht, Alex.«
Ich hörte Thomas Byrnes zu, ohne einen Muskel zu bewegen. Dieses Gespräch mit dem Präsidenten wirkte betäubend, beunruhigend. Ich konnte an Thomas Byrnes’ Miene erkennen, wie viel Überwindung es ihn kostete, mir diese Dinge anzuvertrauen.
»Wir sollten diese Leute unter Observierung stellen«, sagte ich.
Der Präsident schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht gestatten. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Das kann ich nicht, Alex.« Der Präsident erhob sich. »Wie haben Ihren Kindern die Souvenirs gefallen?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. So würde ich mich nicht abspeisen lassen. »Denken Sie an den Vizepräsidenten und Senatorin Glass. Das ist eine Ermittlung in Mordfällen . Bitte, schützen Sie niemanden, der vielleicht darin verwickelt ist. Mr. Präsident, helfen Sie uns bitte ... wer auch immer es sein mag.«
»Guten Abend, Alex«, sagte der Präsident mit kräftiger, klarer Stimme. Seine Augen waren unnachgiebig.
»Guten Abend, Mr. Präsident.«
»Bleiben Sie dran«, sagte er. Dann wandte er sich ab und verließ das Solarium.
Don Hamerman trat ein. »Ich führe Sie hinaus«, sagte er steif. Er war kalt – unfreundlich.
Vielleicht hatte auch ich einen Feind im Weißen Haus.
63.
Niemals, José! Das kann nicht sein! Nie und nimmer! Es konnte nicht geschehen. Das wäre so, als würden die X-Files und die Twilight Zone auf den Information Superhighway treffen.
Mit ihren einsdreiundfünfzig und zwei Zentnern war Maryann Maggio ein menschliches Kraftwerk. Sie betrachtete sich als die »Zensorin des Obszönen und Gefährlichen« auf dem interaktiven Netz des Internet-Servers Wonder , einer Tochtergesellschaft der IBM. Maryanns Aufgabe bei Wonder bestand darin, Reisende auf dem Daten-Superhighway zu schützen. Und nun entwickelte sich vor ihren Augen ein Notfall. Ein Eindringling war im Netz.
Das durfte nicht geschehen. Sie konnte die Augen nicht von ihrem IBM-Monitor auf dem Schreibtisch nehmen. »Also, wir haben das interaktive Zeitalter, nicht wahr? Nun, Leute, dann bereitet euch darauf vor«, murmelte sie. »Jetzt geschieht ein Zugunglück.«
Maryann Maggio war seit fast sechs Jahren bei der Zensurabteilung von Wonder. Der absolute Renner auf dem Dienstleistungssektor des Unternehmens waren die Kleinanzeigen. Mittels dieser Anzeigen schickten Mitglieder persönliche Botschaften an andere Mitglieder: Infos, Briefe, Tipps für die Urlaubsplanung oder für ein neues Restaurant. Solche Dinge.
Für gewöhnlich waren diese Mitteilungen ziemlich harmlos. Fragen und Antworten behandelten alle möglichen Themen, von Wohlfahrtsorganisationen bis hin zum Mordprozess des Monats.
Aber nie waren es Mitteilungen wie diese, die nun vor Maryanns Augen auf dem Monitor erschienen. Das rief den Zensor in Sachen Kinderschutz in Maryann auf den Plan, den Beschützer kindlicher Hirne. Ihr bärtiger, zweieinhalb Zentner schwerer Mann, Terry der Pirat, nannte sie deshalb die »Große Schwester«.
Seit ungefähr dreiundzwanzig Uhr hatte Maryann Maggio die Mitteilungen eines bestimmten Abonnenten in Washington, D.C., überwacht. Anfangs waren die seltsamen Mitteilungen hart an der Grenze, an der sie eingreifen musste. Sollte sie die Nachrichten zurückhalten? Herausnehmen? Aber Wonder musste mit anderen Servern im Internet konkurrieren, und das war ein verdammt harter Brocken.
Maryann
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