Patterson, James - Alex Cross 03 - Sonne, Mord und Sterne
fragte sich, ob der Absender das wusste. Manchmal kannten Verrückte die Regeln. Sie wollten bis an die Grenze gehen. Oder sie schienen einfach menschlichen Kontakt zu brauchen – sogar mit ihr, der Zensorin der Gedanken. Big Sister is watching.
Bei den ersten Mitteilungen hatte der Unbekannte andere Kunden um deren »aufrichtige« Meinung zu einem umstrittenen Thema gebeten. Ein Mord an einem Kind in Washington wurde beschrieben. Dann wurden die anderen nach ihrer Meinung gefragt, ob die Kindermorde oder die Morde Jack und Jills mehr Aufmerksamkeit seitens der Polizei und der Presse verdienten. Welche Fälle waren wichtiger – moralisch und ethisch?
Maryann Maggio war gezwungen gewesen, zwei der früheren Mitteilungen herauszunehmen. Nicht wegen ihres Inhalts an sich, sondern wegen der vielen üblen Schimpfworte, besonders der mit f und s .
Aber nachdem sie die Mitteilungen herausgenommen hatte, war es zu einer unglaublichen Gefühlsexplosion bei dem Kunden in Washington gekommen. Erst kam eine lange und üble Beschimpfung der »obszönen und unnötigen Zensurpest bei Wonder«. Die anderen Kunden wurden aufgefordert, zu CompuServe oder anderen konkurrierenden Online-Diensten zu wechseln. Selbstverständlich hatten auch CompuServe und America Online Zensoren.
Die Mitteilungen flogen jetzt schneller aus Washington heraus als der Shuttle zwischen der Hauptstadt und New York. In einer dieser Mitteilungen wurde Wonder aufgefordert, »den Arsch eures unglaublich unfähigen Zensors zu feuern«. Maryann nahm diesen Wunsch aus dem Netz.
In einer anderen Mitteilung kamen F Worte elfmal in zwei Absätzen vor. Auch dieses Fickogramm wurde von Maryann zensiert.
Dann aber zeigte sich, dass der Absender mehr als eines der üblichen Großmäuler war. Um ein Uhr siebzehn behauptete der Kunde in Washington, die beiden brutalen Kindermorde begangen zu haben.
Er behauptete, der Mörder zu sein und dass er es beweisen könne – live bei Wonder .
Die »Große Schwester« zog diese Mitteilung sofort aus dem Verkehr. Sie rief auch ihre Vorgesetzte in ihr Büro ins Wonder-Center in White Plains, New York. Maryann bebte am ganzen Körper wie Wackelpudding, als ihre Chefin eintraf und schwarzen Kaffee für sie beide mitbrachte. Schwarzer Kaffee? Maryann brauchte etliche von Little Johns Pizzas »mit allem Drum und Dran«, um diese schreckliche Katastrophe durchzustehen.
Plötzlich erschien eine neue Botschaft des Kunden aus Washington auf dem Monitor. Der Typ war offenbar wortgewandt und intelligent, aber unglaublich wütend und wirklich total verrückt . Die letzte Mitteilung listete grausige Details über den Mord an einem farbigen Kind auf, »Details, von denen nur die Washingtoner Polizei Kenntnis hat«, wie der Kunde schrieb.
»Mein Gott, Maryann, was für ein widerlicher irrer Spinner«, sagte Maryanns Chefin und blickte ihr über die Schulter. »Sind alle Mitteilungen so?«
»Ja, so ziemlich, Joanie. Er hat seine Sprache ein bisschen gemäßigt, aber die Tendenz zur Gewalt ist geblieben. Verdammt unheimlich. So ist der Typ schon, seit ich ihm die Flügel beschnitten habe.«
Die jüngste Mitteilung aus Washington tauchte vor ihren Augen auf. Es schien tatsächlich die Beschreibung eines wirklichen Mordes an einem schwarzen Kind im Garfield Park zu sein. Der Mörder behauptete, er habe einen abgesägten Baseballschläger benutzt, den er mit Isolierband verstärkt habe. Er behauptete, dreiundzwanzigmal auf das Kind eingeschlagen und jeden einzelnen Schlag gezählt zu haben.
»Machen wir diesem grässlichen Scheiß ein Ende. Ziehen Sie ihm den Stecker raus!«, entschied die Chefin rasch.
Dann fällte die Chefin eine noch wichtigere Entscheidung. Sie meldete den verdächtigen Kunden der Washingtoner Polizei. Weder sie noch Maryann Maggio wussten, ob die Kindermorde echt waren, aber es hörte sich sehr danach an.
Um halb zwei Uhr morgens erreichte die Chefin von Wonder einen Detective im Ersten Revier. Sie notierte sich den Dienstgrad des Beamten und auch seinen Namen: Detective John Sampson.
64.
Ich war kurz nach eins ins Bett gekommen. Nana weckte mich um Viertel vor fünf. Ich hörte ihre Pantoffeln über das kahle Parkett im Schlafzimmer schlurfen. Dann flüsterte sie direkt über meinem Ohr. Ich hatte das Gefühl, wieder sechs Jahre alt zu sein.
»Alex? Alex? Bist du wach?«
»Mm, hmmm. Logisch – um diese Uhrzeit.«
»Dein Freund ist unten in der Küche. Er schaufelt Speck und Tomaten aus meiner Pfanne in sich hinein, als
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