Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
auf das Pferd steigen, das einen abgeworfen hat. Ich verbrachte zwei Tage zu Hause in Washington, aber sie kamen mir eher wie zwei Stunden vor. Alle waren böse auf mich, weil ich mich doch wieder an der Jagd beteiligen wollte: Nana, die Kinder, Christine. Es war nicht zu ändern.
Am dritten Tag nahm ich den ersten Flug nach Boston und war um neun Uhr morgens in Thomas Pierces Wohnung in Cambridge. Der Drachentöter war trotz aller Bedenken erneut in Aktion.
Kyle Craigs ursprünglicher Plan, mit dessen Hilfe er Pierce festnehmen wollte, war für das im allgemeinen konservative FBI besonders tollkühn gewesen, aber er hatte keine andere Wahl gehabt. Die Frage lautete jetzt: War es Thomas Pierce gelungen, aus der Gegend von Princeton zu entkommen? Oder hielt er sich noch immer dort auf? War er auf Umwegen nach Boston zurückgekehrt? Oder war er vielleicht wieder nach Europa geflogen? Niemand wußte es genau. Es war außerdem gut möglich, daß wir sehr lange nichts mehr von Pierce alias Mr. Smith hören würden.
Es gab ein Muster! Wir mußten es nur erkennen.
Pierce und Isabella Calais hatten drei Jahre in einer Wohnung im ersten Stock eines Gebäudes in Cambridge zusammengelebt. Durch die Eingangstür gelangte man direkt in eine Diele und eine daneben liegende Küche. Ein langer Korridor wie in einem Zug schloß sich an. Die Wohnung war eine Offenbarung. Überall fanden sich Erinnerungen und Andenken an Isabella Calais. Es war seltsam und überwältigend – als wohne sie immer noch hier und könne plötzlich aus einem der Zimmer auftauchen. In jedem Zimmer standen Fotos von ihr. Ich zählte beim ersten schnellen Rundgang über zwanzig Bilder von Isabella.
Wie konnte Pierce es ertragen, daß das Gesicht dieser Frau überall präsent war, ihn ansah, schweigend anschaute, ihn eines unaussprechlich grausamen Mordes beschuldigte?
Auf den Bildern war zu sehen, daß Isabella Calais wunderschönes, kastanienbraunes langes Haar hatte, sie trug es offen und perfekt frisiert. Sie hatte außerdem ein bezauberndes Gesicht und ein hinreißendes, natürliches Lächeln. Es war leicht zu verstehen, daß er sie geliebt hatte. Aber auf manchen Bildern hatten ihre Augen einen abwesenden Ausdruck, als sei sie in Gedanken woanders.
Alles an ihrer gemeinsamen Wohnung brachte die Gedanken in meinem Kopf in Aufruhr, und auch mein Inneres war aufgewühlt. Wollte Pierce uns oder vielleicht sogar sich selbst einreden, er empfinde absolut nichts – kein Schuldgefühl, keine Traurigkeit, keine Liebe?
Während ich darüber nachdachte, überwältigten mich meine Gefühle. Ich konnte mir die Qual vorstellen, die jeden Tag seines Lebens bestimmen mußte, niemals echte Liebe oder tiefe Gefühle empfinden zu können. Glaubte Pierce in seinem Wahn womöglich, daß er, indem er jedes seiner Opfer sezierte, irgendwann die Lösung für seine eigenen Probleme finden würde?
Vielleicht war das Gegenteil richtig: War es möglich, daß Pierce Isabellas Präsenz spüren mußte, alles so intensiv wie nur irgend vorstellbar empfinden wollte? Hatte Thomas Pierce Isabella Calais mehr geliebt, als er jemals geglaubt hatte, jemanden lieben zu können? Hatte Pierce ihrer beider Liebe als Erlösung empfunden? Hatte sie ihn durch ihr Verhalten zum Wahnsinn getrieben und zum unvorstellbarsten Akt überhaupt – dem Mord an dem einzigen Menschen, den er je geliebt hatte –, als er von ihrem Verhältnis mit Martin Straw erfuhr? Warum hingen ihre Bilder immer noch überall in der Wohnung? Warum hatte sich Thomas Pierce mit der ständigen Erinnerung gequält?
Isabella Calais schien mich zu beobachten, während ich durch die Zimmer der Wohnung wanderte. Was wollte sie mir sagen?
»Wer ist er, Isabella?« flüsterte ich. »Was hat er vor?«
109.
Ich machte mich an eine detaillierte Durchsuchung der Wohnung. Ich nahm nicht nur Isabellas Sachen sorgfältig unter die Lupe, sondern auch die von Pierce. Weil beide Studenten gewesen waren, überraschte es mich nicht, daß jede Menge Lehrbücher und akademische Schriften in den Regalen standen.
Ich fand ein Teströhrchengestell mit zugestöpselten Sandfläschchen. Jedes Röhrchen war mit dem Namen eines anderen Strandes etikettiert: Laguna, Montauk, Normandie, Parma, Virgin Gorda, Oahu. Ich dachte über die seltsame Tatsache nach, daß Pierce etwas derart Unzählbares, Unendliches und Beliebiges in Fläschchen gefüllt hatte, um es zu ordnen und zu katalogisieren. Wie sah sein Ordnungsprinzip für die Morde von Mr.
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