Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
Gesicht tief über den Teller beugte. Ihm war nicht bewußt, wie komisch sein deprimiertes Aussehen wirkte. Nichts war zu hören außer Kyles Gabel, die über den Teller kratzte. Schließlich brach ich das Schweigen.
»Diese Eier müssen ja wirklich gut sein.«
Er sah mit seiner üblichen unbewegten Miene zu mir auf. »Diesmal habe ich wirklich Mist gebaut, Alex. Ich hätte Pierce festnehmen müssen, als ich die Chance dazu hatte. Wir haben in Quantico ja darüber gesprochen.«
»Und dann hättest du ihn wieder laufenlassen müssen, ihn nach ein paar Stunden freilassen müssen. Was hättest du dann gemacht? Wir hätten Pierce nicht ewig überwachen können.«
»Direktor Burns wollte Pierce betreffend eine finale Aktion durchsetzen, ihn töten lassen, aber ich habe heftig widersprochen. Ich habe geglaubt, ich könne ihn kriegen. Ich habe Burns gesagt, daß ich Pierce überführen würde.«
Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Ich konnte nicht glauben, was ich gerade gehört hatte.
»Der Direktor des FBI hätte solch eine Sanktion gegen Pierce gebilligt? Herrje.«
Kyle fuhr sich mit der Zunge über die Zähne.
»Ja, und daran war nicht nur Burns beteiligt. Die ganze Sache ist bis ins Justizministerium vorgedrungen, Gott weiß, wohin sonst noch. Ich hatte sie davon überzeugt, daß Pierce Mr. Smith ist. Irgendwie hat ihnen die Vorstellung, daß ein FBIAgent im Außeneinsatz gleichzeitig ein Serienmörder ist, überhaupt nicht gefallen. Ich glaube, jetzt werden wir ihn nie mehr fassen. Es ist einfach kein richtiges Muster zu erkennen, Alex, jedenfalls keins, dem wir nachgehen könnten. Es ist ausgeschlossen, ihn aufzuspüren. Er macht sich über uns lustig.«
»Ja, vermutlich tut er das«, pflichtete ich ihm bei. »Auf einer gewissen Ebene ist er eindeutig von Konkurrenzdenken geprägt, er fühlt sich gern anderen überlegen. Das ist jedoch bei weitem nicht alles.«
Ich hatte, seit ich zum ersten Mal von dem komplizierten Fall erfahren hatte, an die Möglichkeit eines abstrakten oder künstlerischen Musters gedacht. Mir war die FBI-Theorie, daß jeder der Morde verschieden sei und – was noch schlimmer war – das Ganze einem willkürlichen Muster folge, durchaus bekannt. Durch diese Umstände wurde es fast unmöglich, Pierce zu fassen. Je mehr ich jedoch über die Mordserie nachdachte und vor allem über Thomas Pierces Vorgeschichte, desto stärker wurde mein Verdacht, daß es doch ein Muster geben müsse, eine Mission hinter dem Ganzen steckte. Dem FBI war das bisher nur entgangen. Und mir auch.
»Was wirst du tun, Alex?« fragte Kyle schließlich. »Ich verstehe es vollkommen, wenn du nicht mehr an diesem Fall arbeiten willst, wenn du keine Lust dazu hast.«
Ich dachte an meine Familie, an Christine und die Dinge, die wir miteinander besprochen hatten, aber ich sah keine Möglichkeit, mich jetzt von diesem furchtbaren Fall zurückzuziehen. Ich hatte außerdem Angst vor einem Vergeltungsschlag von Pierce. Jetzt ließ sich nicht mehr vorhersagen, wie er reagieren würde.
»Ich bleibe ein paar Tage lang gemeinsam mit dir an dem Fall dran. Ein paar Tage, Kyle. Ich mache keine Versprechungen darüber hinaus. O Gott, warum habe ich das bloß gesagt? Verdammt noch mal!«
Ich schlug auf den Tisch, und die Teller und das Besteck wackelten. Zum ersten Mal an jenem Morgen ließ Kyle ein halbes Lächeln sehen.
»Hast du einen Plan? Sag mir, was du vorhast.«
Ich nickte langsam. Eigentlich konnte ich noch immer nicht fassen, was ich da tat.
»Mein Plan ist folgender: Zuerst fahre ich nach Hause nach Washington, und das ist unumstößlich. Morgen oder übermorgen fliege ich dann nach Boston, weil ich Pierces Wohnung sehen will. Er wollte mein Haus doch auch sehen. Dann schauen wir weiter, Kyle. Bitte, leg deine Ermittler an die Leine, bis ich in seiner Wohnung war. Sie dürfen sie anschauen und Fotos machen, aber sie sollen nichts verändern. Mr. Smith ist sehr ordentlich. Ich will sehen, wie Pierces Wohnung aussieht, was er für uns hinterlassen hat.«
Kyles Miene war wieder unbewegt und todernst, so, wie ich ihn kannte.
»Wir werden ihn trotzdem nicht kriegen, Alex. Er ist gewarnt, von jetzt an wird er vorsichtiger sein. Vielleicht verschwindet er auch ganz, wie es manche Mörder tun, taucht einfach ab.«
»Das wäre schön«, sagte ich, »aber ich glaube nicht, daß es dazu kommt. Es gibt ein Muster, Kyle. Wir haben es nur noch nicht erkannt.«
108.
Wie es im Wilden Westen heißt, muß man sofort wieder
Weitere Kostenlose Bücher