Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
vorbei. Die mit Brettern vernagelten Arkadenläden des Vergnügungsparks reihten sich einer am anderen den Strand entlang. Die kleinen, grauen Gebäude sahen im geschlossenen Zustand trostlos und stumm aus.
Wie üblich hörte er in seinem Kopf Musik – erst Elvis Costellos »Clubland«, dann Beethovens Klaviersonate Nr. 21, dann »Mother Mother« von Tracy Bonham. Das wilde Tier in ihm war nicht zur Ruhe gekommen, nicht einmal annähernd, aber wenigstens spürte er noch den Rhythmus der Musik.
Es war Viertel vor vier Uhr morgens, und selbst die Fischer waren noch nicht ausgelaufen. Er hatte bis jetzt nur einen einzigen Streifenwagen gesehen. Die Polizeibesetzung in der winzigen Küstenstadt war sowieso ein Witz.
Mr. Smith gegen die Cops von Keystone.
Diese ganze beknackte Küstenregion erinnerte ihn an Laguna Beach, jedenfalls an seine Touristengegenden. Er sah die Surfläden vor sich, die bei ihm zu Hause den Pacific Coast Highway sprenkelten, vollgestopft mit südkalifornischen Artefakten: Flogosandalen, Stussy-T-Shirts, Neoprenhandschuhen und Taucheranzügen, Strandstiefeln, er konnte beinahe den unverkennbaren Geruch von Wasserskiwachs riechen.
Er war körperlich stark und trug Anthony Bruno ohne viel Mühe über einer Schulter. Er hatte ihm alle lebenswichtigen Organe herausoperiert, deshalb war nicht mehr viel von Anthony übrig. Anthony war nur noch eine leere Hülle: ohne Herz, ohne Leber, ohne Eingeweide, ohne Lungen und ohne Gehirn.
Thomas Pierce dachte an die sich fortsetzende Suchaktion des FBI. Seine sagenhaften »Menschenjagden« wurden überschätzt, wahrscheinlich ein Überbleibsel aus der glorreichen Zeit von John Dillinger und Bonnie und Clyde. Nach all den Jahren, in denen er aus nächster Nähe beobachten konnte, wie das FBI Mr. Smith verfolgte, wußte er, daß es so war. Sie hätten Smith niemals gefaßt, nicht in hundert Jahren. Das FBI hielt nur an den falschen Orten nach ihm Ausschau. Es hatte bestimmt Heerscharen von Agenten auf ihn angesetzt, jede Menge Leute, eine Vorgehensweise, für die das FBI bekannt war. Auf den Flughäfen würde es von Agenten wimmeln, weil sie vermutlich damit rechneten, daß er nach Europa zurückkehrte. Und was war mit den unbekannten Größen bei der Suchaktion, mit Leuten wie Alex Cross? Cross war ihm unter die Haut gegangen, daran gab es keinen Zweifel. Vielleicht war Cross besser, als es schien. Wie auch immer, Pierce genoß den Gedanken, daß Dr. Cross ebenfalls an der Jagd beteiligt war. Ihm gefiel die ansprechende Konkurrenz.
Das leblose Gewicht auf seinem Rücken und seiner Schulter wurde allmählich schwer. Es war fast Morgen, kurz vor Tagesanbruch. Es durfte nicht passieren, daß er dabei ertappt wurde, wie er einen ausgeweideten Leichnam am Point Pleasant Beach entlangschleppte.
Er trug Anthony Bruno noch ungefähr fünfzig Meter weiter zu einem schimmernden weißen Hochsitz für Rettungsschwimmer, stieg die knarrenden Leitersprossen hoch und packt die Leiche auf den Sitz. Die Überbleibsel des menschlichen Körpers waren nackt und entblößt, damit alle Welt sie sehen konnte. Welch ein Anblick! Auch Anthony war ein Schlüssel, falls jemand im Suchtrupp seinen Verstand auch nur halb beisammenhatte und ihn endlich richtig einsetzte.
»Ich bin kein Außerirdischer. Kapiert das denn keiner von euch?« rief Pierce über das stetige Tosen des Ozeans hinweg. »Ich bin menschlich. Ich bin völlig normal. Ich bin genau wie ihr.«
112.
Das Ganze war ein Psychospielchen: Pierce gegen uns alle. Während ich in seiner Wohnung in Cambridge gewesen war, war ein Team von FBI-Agenten nach Südkalifornien gereist und hatte Thomas Pierces Familie besucht. Die Eltern wohnten immer noch auf derselben Farm zwischen Laguna und El Toro, dort, wo Thomas Pierce aufgewachsen war.
Sein Vater Henry Pierce praktizierte als Arzt, überwiegend für die bedürftigen Farmarbeiter der Gegend. Sein Lebensstil war bescheiden, der Ruf seiner Familie makellos. Pierce hatte einen älteren Bruder und eine ältere Schwester, beide waren Ärzte in Nordkalifornien, die ebenfalls sehr angesehen waren und vorrangig ärmere Leute behandelten.
Kein einziger Mensch, mit dem die Profilexperten sprachen, konnte sich Thomas Pierce als Mörder vorstellen. Er war immer ein guter Sohn und Bruder gewesen, ein begabter Student, der einige enge Freunde und keine Feinde zu haben schien.
»Makellos« war das Wort, das mir aus den Berichten der Profilexperten vom FBI entgegensprang. Vielleicht
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