Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
ihren Mann George, daran, wie er gestorben war und warum. Sie wünschte sich, sie könnte ihn noch einmal zurückholen und mit ihm reden. Sie wollte George ein letztes Mal in den Armen halten. O Gott, sie mußte mit ihm sprechen.
Sie ging bis zum Ende des Flurs, zu Zimmer 111, das leuchtendgelb gestrichen war und Butterblume hieß. Die Kinder hatten sich die Namen der Zimmer selbst ausgedacht und änderten sie jedes Jahr im Herbst. Schließlich war es ihre Schule.
Christine machte die Tür behutsam und leise einen Spalt weit auf. Bobbie Shaw, die Lehrerin der ersten Klasse, wischte gerade ein Tafelbild weg. Christine betrachtete Reihen überwiegend aufmerksamer Gesichter, unter ihnen Jannie Cross.
Sie ertappte sich bei einem Lächeln, als sie Jannie beobachtete, die zufällig eben mit ihrer Lehrerin sprach. Jannie Cross war lebhaft und intelligent, und sie sah die Welt mit eigenen Augen. Sie hatte große Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Klug, sensibel, schön anzuschauen.
Schließlich ging Christine weiter und stieg geistesabwesend die Treppe in den ersten Stock hinauf. Auch die Treppenhauswände waren mit Projekten und bunten Bildern geschmückt, ein weiterer Grund, warum die meisten Kinder das Gefühl hatten, das hier sei »ihre Schule«. Sobald man verinnerlichte, daß einem etwas gehörte, schützte man es, empfand sich als Teil davon. Es war ein ganz einfacher Gedanke, aber einer, den Regierung und Verwaltungsbehörden in Washington nicht zu kapieren schienen.
Sie kam sich ein bißchen töricht vor, aber sie wollte auch einen Blick auf Damon werfen.
Unter allen Jungen und Mädchen in der Truth-Schule war Damon vermutlich ihr Liebling. Schon bevor sie Alex kennengelernt hatte. Es lag nicht nur daran, daß Damon intelligent und wortgewandt war und charmant sein konnte – er hatte außerdem einen sehr guten Charakter. Das bewies er immer wieder anderen Kindern und Lehrern gegenüber, und es hatte sich auch bei der Einschulung seiner kleinen Schwester in diesem Halbjahr bewahrheitet. Er hatte sie wie seinen besten Freund behandelt – und vielleicht verstand er bereits, daß sie das auch war.
Schließlich machte sich Christine auf den Rückweg zu ihrem Büro, wo sie der übliche Zehn- bis Zwölfstundentag erwartete. Jetzt dachte sie an Alex, und insgeheim wußte sie, daß er der wahre Grund war, warum sie nach seinen Kindern geschaut hatte.
Sie wußte nicht, ob sie sich auf ihr gemeinsames Essen am Abend freuen sollte. Sie hatte Angst davor, empfand leichte Panik, und sie glaubte zu wissen, warum.
4.
Gary Soneji schlenderte in die Union Station, als ob der Bahnhof ihm gehörte. Er fühlte sich ungeheuer gut. Sein Schritt beschleunigte sich, und seine Lebensgeister schienen sich bis zum hohen Bahnhofsdach zu erheben.
Er wußte alles, was es über den berühmten Bahnhof der Hauptstadt zu wissen gab. Er hatte lange die neoklassizistische Fassade bewundert, die an die Caracalla-Thermen im alten Rom erinnerte. Er hatte sich als Junge stundenlang mit der Bahnhofsarchitektur beschäftigt. Er war auch im Great Train Store gewesen, in dem wertvolle Modelleisenbahnen und andere Bahnsouvenirs verkauft wurden.
Er konnte das Rattern der Züge in der Tiefe hören und spüren. Die Marmorböden bebten, wenn starke Amtrak-Züge abfuhren und ankamen. Die Glastür zur Außenwelt grollte wie Donner, und er vernahm, wie die Scheiben im Rahmen klirrten.
Er liebte diesen Ort. Jeden noch so kleinen Winkel. Der Bahnhof verfügte über wahre Zauberkräfte. Die Schlüsselworte lauteten heute Zug und Keller , und nur er wußte, warum.
Wissen ist Macht, und er wußte alles.
Gary Soneji dachte darüber nach, daß er innerhalb der nächsten Stunde durchaus sterben konnte, aber die Vorstellung beunruhigte ihn nicht. Was auch geschehen mochte, war so vorherbestimmt, und außerdem wollte er unbedingt mit einem Knall abtreten, nicht mit einem feigen Winseln. Und warum zum Teufel sollte er auch nicht? Er hatte Pläne für eine lange, aufregende Karriere nach seinem Tod.
Gary Soneji trug einen leichten schwarzen Trainingsanzug mit einem roten Logo von Nike. Er hatte drei sperrige Taschen bei sich. Er fand, er sehe genauso aus wie jeder andere Reisende in dem überfüllten Bahnhof. Er wirkte übergewichtig und hatte zur Zeit graues Haar. Eigentlich war er einssiebenundsiebzig, aber durch Einlagen in den Schuhen und dicke Sohlen brachte er es heute auf einsfünfundachtzig. Ein kleiner Rest seines früheren guten Aussehens war geblieben.
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