Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
durchströmenden Rückblenden waren nervraubend, gerieten außer Kontrolle. Ich mochte das Gefühl nicht und wußte nicht, ob ich unter den streßbeladenen, fast klaustrophobischen Umständen überhaupt eine Ermittlung würde durchführen können, ganz zu schweigen von zwei. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren für mich die Hölle gewesen.
Ich war von London aus in die Vereinigten Staaten geflogen, in Washington auf dem National Airport gelandet, dann weitergereist nach Quantico, Virginia. Von dort war ich überraschend nach Washington zurückbeordert worden, wo ich mich bis zehn Uhr abends mit dem Puzzle Cross beschäftigt hatte. Alles wurde nur noch schlimmer, falls es überhaupt noch schlimmer werden konnte, weil ich keinen Schlaf fand, als ich endlich in meinem Zimmer im Washington Hilton & Towers im Bett lag. Mein Körper und mein Geist waren in einem chaotischen Zustand, wehrten sich beharrlich gegen das Schlafen. Die vorläufig gültige Theorie über den Fall Cross, die ich zuvor in der FBI-Zentrale von den Ermittlern gehört hatte, gefiel mir nicht. Sie bewegten sich auf ausgefahrenen Gleisen, waren wie begriffsstutzige Schüler, die an der Klassenzimmerdecke nach Antworten suchten. Ehrlich gesagt, die meisten Ermittler erinnerten mich an Einsteins scharfsinnige Definition von Geisteskrankheit, von der ich zum ersten Mal in Harvard gehört hatte: »Die endlose Wiederholung des gleichen Verfahrens, in der Hoffnung auf ein anderes Ergebnis.«
Ich sah immer wieder das Schlafzimmer vor mir, in dem Alex Cross brutal überfallen worden war. Ich suchte nach einem Hinweis – aber wo war er? Ich hatte Cross’ Blut vor Augen, verspritzt an den Wänden, den Vorhängen, auf den Laken und dem Läufer. Was war mir entgangen? War mir überhaupt etwas entgangen?
Ich konnte nicht schlafen, verflucht noch mal.
Schließlich versuchte ich es mit Arbeit als Sedativ, das war mein übliches Gegengift. Ich hatte schon mit ausführlichen Notizen und mit Skizzen vom Tatort angefangen. Jetzt stand ich auf und schrieb weiter, mein Laptop wartete auf dem Tisch, stets einsatzbereit. Mein Magen rebellierte, und mein Kopf pochte zum Verrücktwerden. Ich begann zu tippen:
Könnte Gary Soneji noch am Leben sein? Schließ jetzt noch nichts aus, nicht einmal die absurdeste Möglichkeit!
Laß Sonejis Leiche exhumieren, falls nötig.
Lies Cross’ Buch Morgen, Kinder, wird’s was geben .
Fahr ins Gefängnis nach Lorton, wo Soneji eingesessen hatte.
Nach einer Stunde Arbeit schob ich den Computer beiseite, es war fast zwei Uhr morgens. Ich fühlte mich immer noch benebelt, als hätte ich eine schlimme, quälende Erkältung, und konnte nach wie vor nicht schlafen. Ich war dreiunddreißig Jahre alt und fühlte mich jetzt schon wie ein alter Mann.
Immer wieder sah ich das blutbespritzte Schlafzimmer vor mir. Niemand kann sich vorstellen, was es heißt, Tag und Nacht mit solchen Bildern vor Augen zu leben. Ich hatte Alex Cross vor Augen, so, wie er im St. Anthony’s Hospital dagelegen hatte. Dann dachte ich an die Opfer von Mr. Smith, seine »Studien«, wie er sie nannte.
Die grauenhaften Szenen wiederholten sich immer wieder in meinem Kopf. Sie führten immer wieder zum gleichen Ort, einem anderen Schlafzimmer, zur gleichen schrecklichen Erinnerung:
Ich entsann mich mit völliger Klarheit daran, wie ich in jener Schreckensnacht den schmalen Flur unseres gemeinsamen Apartments entlanggerannt war. Ich erinnerte mich daran, wie mir das Herz bis zum Hals klopfte, wie meine Kehle immer mehr anschwoll. Ich erinnerte mich an jeden dröhnenden Schritt, an alles, was ich unterwegs sah. Schließlich entdeckte ich Isabella, und ich glaubte, es müsse ein Traum sein, ein entsetzlicher Alptraum.
Isabella lag in unserem Bett, und ich wußte sofort, daß sie tot war. Niemand hätte das Gemetzel, dessen Spuren ich dort fand, überleben können. Niemand überlebte es – keiner von uns beiden. Isabella war mit dreiundzwanzig Jahren, in der Blüte ihres Lebens, brutal ermordet worden, noch ehe sie Mutter werden konnte, Ehefrau, Anthropologin, ihr Traumberuf. Ich konnte nicht anders, konnte nicht verhindern, daß ich mich über das Bett beugte und sie in die Arme nahm, zumindest das, was von Isabella übrig war.
Wie kann ich je auch nur ein Detail davon vergessen? Wie kann ich diesen Anblick aus meinem Bewußtsein vertreiben?
Die schlichte Antwort lautet: Ich werde es nie können.
80.
Ich war wieder auf der Jagd, auf einer der einsamsten
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