Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
bei ihm doch augenscheinlich um einen dieser zwielichtigen Künstler handelte. Paul wusste, dass man sich so einiges über ihn erzählte. Etwa darüber, dass er in einer unverschämt teuren Atelierwohnung lebte und junge Mädchen zu sich bestellte, um sie splitternackt zu fotografieren und weiß Gott was mit ihnen zu treiben. Der Bäcker musste ihn, diesen Lebemann, verachten – und wahrscheinlich gleichzeitig eine stille Bewunderung für ihn hegen. Bei dieser Vorstellung lächelte Paul amüsiert und streckte seinem Spiegelbild zum Spaß die Zunge heraus, bevor er die Backstube mit gefüllter Brötchentüte und der Tageszeitung verließ.
Es war neun Uhr durch, Pauls übliche Zeit für den morgendlichen Kontrollgang durch sein Viertel, den Weinmarkt. Das war seine kleine Stadt in der großen Stadt. Er fühlte sich bei diesem Gedanken an den Prolog des Christkinds erinnert. Statt aus Holz und Tuch war seine kleine Welt allerdings solide aus Stein gemauert. Das meiste in den Gründerjahren errichtet. Einige Überbleibsel vom Krieg verschonten Jugendstils, an den Ausläufern seines Reviers standen sogar ein paar anständig herausgeputzte Fachwerkhäuser.
Ein eiskalter Windzug blies ihm ins Genick und schlagartig war die Erinnerung an den grausigen Ausgang des gestrigen Abends wieder da. Er zog seinen Schal straffer und die gefütterte schwarze Baseballkappe so weit über seine Ohren, wie es unter modischen Gesichtspunkten gerade noch vertretbar erschien.
»Dürer«, dachte er laut. Das war das letzte Wort aus dem Mund des sterbenden Densdorf gewesen. Das heißt: bis auf einige unverständliche Silben, die danach noch gefolgt waren, die jedoch niemand verstanden hatte.
Paul konnte das Bild der fahlen Lippen, die die einzelnen Buchstaben mühselig geformt hatten, nicht aus seinem Kopf verbannen. Dürer. Was sollte das bedeuten? Hatte er tatsächlich Dürer gemeint? Albrecht Dürer? Oder war das nur das sinnlose Gefasel eines Sterbenden? Wollte er eigentlich »Tür« sagen? Die Tür zum Himmel? Oder – wenn er Densdorfs Lebenswandel, über den er so einiges gehört hatte, bedachte – das Tor zur Hölle?
Paul stapfte weiter durch den Schnee. Nein, nein, Densdorf hatte Dürer gesagt. Und in Nürnberg konnte der Name Dürer nicht missverstanden werden. Es gab nur den einen Dürer. Der Name Dürer war ebenso eng mit der Stadt verknüpft wie umgekehrt. Es existierte eine jahrhundertealte Verbindung. Densdorf hatte beruflich sicherlich ständig damit zu tun gehabt: mit der Vermarktung von Dürer-Ausstellungen, Dürer-Prospekten und sogar von grünen Dürer-Platikhasen.
Vielleicht war es wirklich so einfach: Ein Mann dachte selbst noch in den Minuten seines Todes an den Job.
»Grüß Gott, Herr Flemming.«
Er nickte bemüht freundlich, obwohl er nicht wusste, wie die alte Dame mit dem altrosa Hütchen, der er jeden Morgen begegnete, hieß. Seine kleine Stadt hatte alles zu bieten, was er brauchte. Den – miesen – Bäcker, einen passablen Metzger und ein formidables fränkisches Lokal.
»Hallo Marlen!«
Paul musste lachen, als er Marlen, die Kellnerin aus dem Goldenen Ritter, in übertriebener Eile mit einem randvoll bepackten Lebensmittelkarton über den eisglatten Gehweg balancieren sah. Sie hatte bestimmt wieder ihren Chef im Nacken: Jan-Patrick servierte zwar das knusprigste Schäuferle weit und breit und kochte »Blaue Zipfel« in einem Essigsud zum Niederknien – seine Erwartungshaltung seinem Personal gegenüber war allerdings gnadenlos.
Wenig später hatte es sich Paul zu Hause bequem gemacht. Es war an der Zeit für sein morgendliches Ritual: unaufdringlicher Jazz im Hintergrund, Espresso und die Zeitung vor sich auf dem Tisch. Aber heute schmeckte der Espresso bitter, die Musik klang irgendwie fade und Paul wurde klar, dass er noch so lange durch sein Viertel bummeln könnte, er würde den Gedanken an Densdorfs Ende doch nicht vertreiben können.
Neue beunruhigende Einzelheiten über den Tod seines Auftraggebers erfuhr Paul, als er ins gummiartige Brötchen biss und den Aufmacher im Lokalteil Zeile für Zeile in sich aufsog. Der Bericht schilderte noch einmal in allen Details den letzten erfolglosen Einsatz von Feuerwehr und Notarzt und mutmaßte, dass Densdorf wahrscheinlich wegen der stellenweise schlechten Räumung der Brücke auf einer Eisfläche ausgerutscht und dadurch über die Brüstung gestürzt war. Die Chance, in ein Grad kaltem Wasser zu überleben, sei gering. Paul schob den Kaffee nun ganz
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