Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
beiseite.
Um sich von der deprimierenden Lektüre abzulenken, ließ er den Blick durch sein kombiniertes Wohn-, Koch-, Schlafzimmer schweifen, ein großzügig angelegtes Loft, ausgestattet mit einem für ein Atelier typischen, riesigen, ovalen Oberlicht und frei von jeder die Sicht und den Geist einengenden Zwischenwand – allerdings hoffnungslos voll gestellt mit Kartons, gefüllt mit Negativen, Fachzeitschriften und Kamerazubehör. Dazu kamen Unmengen von Büchern und DVDs. An den weißen Wänden hingen großformatige Abzüge von Aktaufnahmen. Die meisten in Schwarzweiß und auf Holzrahmen gespannt.
Zugegeben: Etliche der Fotos empfand Paul inzwischen eher als Peinlichkeiten statt als ausgereifte Kunstwerke. Andererseits gehörte das langsame Herantasten an perfektere Ergebnisse bekanntlich zum Handwerk. Er stand zu seinen Frühwerken und hatte wenig Verständnis, wenn seine Aktfotografien als bloßer Voyeurismus abstempelt wurden.
Ja, Paul verstand sich auf seine Art durchaus als Künstler, zumindest als ein Künstler auf seinem Fachgebiet. Das sollte allerdings nicht heißen, dass er sich mit den Meistern seines Faches – schon wenn er nur an Helmut Newton dachte, lief ihm ein ehrfürchtiger Schauer den Rücken herunter – messen wollte.
Paul stand auf und sah sich gedankenverloren seine Galerie an und fragte sich, wie sich in solchen Momenten wohl seine Vorvorgänger gefühlt hatten. Eben die vielen Maler aus der Zeit vor der Erfindung der Fotografie. Er musterte selbstversunken eine seiner älteren Aktstudien, als ihm eine frühe Begebenheit in den Sinn kam: Irgendwann – er mochte damals vielleicht zwanzig gewesen sein – hatte er bei einem Pflichtbesuch mit der Schule im Germanischen Nationalmuseum Dürers Kupferstich Adam und Eva gesehen.
Warum kam ihm der Gedanke an dieses Bild gerade jetzt? War es eine zufällige Assoziation, weil er gerade seine Fotos betrachtete? Oder lag es daran, dass Densdorf ihn mit seinen dahingeflüsterten Abschiedsworten auf Dürer gebracht hatte?
Paul wandte nachdenklich den Blick von seinen Fotos. Dürer war für ihn mehr als eine Ikone der Kunstgeschichte. In gewisser Weise hatte Dürer ihn zur Fotografie gebracht. Lange war das inzwischen her, dachte Paul, sehr lange …
Ja, besann er sich, Adam und Eva hatte bei ihm den Funken überspringen lassen. Er erinnerte sich genau an den Tag, als er das nackte Liebespaar betrachtet hatte und plötzlich meinte, die Gedanken der beiden lesen zu können. Aus ihrem Mienenspiel und ihrer Gestik erahnte er ihre Wünsche und Gefühle. Je länger er das Bild anschaute, desto mehr verrieten ihm die Figuren von sich.
Erst lange nach seinem Schlüsselerlebnis hatte Paul erfahren, dass der Kupferstich Adam und Eva für Dürer nur eine Arbeitsprobe gewesen war, die er als Demonstrationsblatt nach Oberitalien mitnahm, um sich dort um einen Auftrag zu bewerben. Später dann, nach seiner Rückkehr, reizte es Dürer, seine Vorstellungen von idealer männlicher und weiblicher Schönheit in großformatige Gemälde umzusetzen. Dürer hatte diese Idee perfektioniert – gar nicht so einfach in einer Zeit, in der Akte von der Kirche legitimiert werden mussten.
Wenigstens muss ich mir darüber keine Gedanken machen, dachte Paul. Ihm war es eigentlich immer nur um eines gegangen: das Studium von Körpern und die hohe Kunst, sie auf zweidimensionalen Bildern zum Leben zu erwecken. Und zwar in einer Perfektion, dass man meinte, sie atmen hören zu können, und das Verlangen verspürte, sie zu berühren.
Warum hatte Densdorf ausgerechnet Dürer gesagt? – Schon merkwürdig: Durch den Tod eines Menschen besann er sich auf etwas, das für ihn einmal maßgeblich gewesen war, das er aber in den letzten Jahren mehr und mehr aus den Augen verloren hatte.
Er zwang seinen Blick zurück zur Lektüre auf dem Tisch. Helmut Densdorf, Leiter des Amtes für Hotelwesen und Fremdenverkehr und zuständig für die Belange des Marktamtes, sein Auftraggeber, war unwiderlegbar tot – vor seinen Augen hatte er sein Leben ausgehaucht. Umgekommen ausgerechnet dort, wo Flemming für ihn arbeiten sollte. Er biss ins Brötchen, kaute ratlos darauf herum, las den Artikel erneut und malte sich die Folgen dieses Dramas für sich selbst aus: Densdorf tot? Wer zahlte ihm jetzt seinen letzten Job?
Paul war erschrocken über seine eigene Kaltblütigkeit. Aber für allzu viel Pietät fehlte ihm ganz einfach das finanzielle Polster. Er zog mit den Füßen den Papierkorb heran,
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