Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
war sehr laut. Ich bin davon wach geworden, dachte zunächst an einen Einbruch und wollte meinem Chef helfen. Ich nahm einen Wagenheber mit, um damit den Einbrecher zu verjagen. Aber da war ja niemand. Nur Wiesinger: allein, aufgewühlt. Ich sah das Durcheinander und die vielen Glassplitter, versuchte ihn zu besänftigen, doch Herr Wiesinger ging nicht darauf ein. Er herrschte mich an, was ich in seinem Arbeitszimmer zu suchen hätte. Als ich nicht sofort gehen wollte, kam es zum Streit. Und was für ein Streit! Dieses Mal habe ich ihm gehörig die Meinung gesagt. Ich hatte genug von der Duckmäuserei!«
Paul bemerkte, dass Schönberger seine Waffe entsicherte. Er versuchte, den aufgebrachten Mann zu beruhigen: »Tun Sie nichts Unüberlegtes. Wir haben Verständnis für Ihre Situation.«
»Gar nichts haben Sie!«, fauchte Schönberger. Das dünne Licht des Mondes fiel durch ein Fenster auf sein schlohweißes Haar und ließ ihn noch gespenstischer und gefährlicher erscheinen, als er es mit der Pistole im Anschlag ohnehin schon war. »Wiesinger hat sich über mich lustig gemacht. Wie so oft in all den Jahren. Aber dieses Mal ist mir der Kragen geplatzt. Ich habe es ihm heimgezahlt – all die Demütigungen …«
»Warum musste Antoinette sterben?«, fragte Paul leise.
Schönberger schloss die Augen. Viel zu kurz, um Paul eine Chance zum Handeln zu geben. Dann sagte er bedächtig: »Sie war Zeugin, hat alles gesehen.« Wieder schloss der alte Mann für Sekundenbruchteile die Augen. »Ich habe bemerkt, dass eine junge Frau hinter dem Vorhang stand. Dann flüchtete sie. Ich ließ sie laufen. Ich dachte, nun wäre alles vorbei.« Schönberger ließ die Pistole langsam sinken.
Paul schöpfte Hoffnung. Aber plötzlich zeigte die Mündung wieder auf seine Brust.
»Ich hatte fest damit gerechnet, dass sie mich am Tag nach Wiesingers Tod verhaften würden. Aber nichts passierte. Ich konnte mir nicht erklären, warum das Mädchen nicht zur Polizei gelaufen ist. Doch ich machte das Beste aus meiner Lage und dachte mir: Ich konnte meine Ansprüche ja noch bei Wiesinger junior geltend machen. Aber dafür musste diese Zeugin verschwinden.«
»Sie haben Antoinette aufgelauert«, folgerte Paul.
Schönberger nickte. »Ich habe sie beobachtet, sie verfolgt. Schließlich erkannte ich meine Chance in den albernen Annäherungsversuchen dieses Reporters.«
Blohfeld, dachte Paul.
»Ich habe mir eines seiner Seidentücher besorgt und es neben der Toten platziert. Damit war ich aus dem Schneider.«
»Das war ein schlauer Schachzug«, sagte Katinka und löste sich langsam von Pauls Seite. Auch sie schien nun Hoffnung zu schöpfen.
»Trotz der beiden Toten sind Sie nicht wirklich weitergekommen«, sagte Paul. Er wollte Schönberger eine Möglichkeit bieten, seine Waffe ohne Gesichtsverlust abzugeben.
Der Alte zögerte einige Momente, streckte dann aber seinen Arm. »Die beiden Toten waren ein Irrweg, da haben Sie Recht«, sagte er. »Aber noch habe ich eine Chance. Ich möchte meine letzten Jahre nicht hinter Gittern verbringen.«
»Das ist eine sehr vernünftige Einstellung«, bestätigte ihn Paul. »Wenn Sie gestehen, haben Sie gute Aussichten auf ein mildes Urteil. Stimmt’s, Katinka?« Er wandte sich Hilfe suchend nach ihr um.
Diese nickte bekräftigend. »Jeder Richter wird ein offenes Ohr für Ihre Erklärungen haben.«
Schönberger kniff die Augen zusammen. Er straffte seine Muskeln und krümmte den Finger um den Abzug seiner Pistole.
Paul brach der Schweiß aus. Sie standen hier seit mehr als fünf Minuten, redeten um ihr Leben – und noch immer wusste Paul nicht, warum Schönberger ihnen aufgelauert hatte. Er starrte in die Mündung der Waffe und fragte verzweifelt: »Was wollen Sie von uns, Schönberger? Warum haben Sie es ausgerechnet auf uns abgesehen? Wir sind doch überhaupt nicht an der Sache beteiligt!«
»Außer Ihnen, Herr Flemming, ahnt bisher niemand, dass ich es war«, sagte Schönberger tonlos. »Normalerweise hätte es nach der Verhaftung von Doro Wiesinger noch Tage oder sogar Wochen gedauert, bis man den Irrtum erkannt hätte und mir auf die Spur gekommen wäre. Aber mir war klar, dass Sie mir durch Ihre penetranten Schnüffeleien in kürzerer Zeit gefährlich werden könnten, als ich für die Planung meiner Flucht benötige.« Schönberger taxierte Paul kalt. »Sie haben sich das hier selbst zuzuschreiben. Dass die Staatsanwältin Sie heute Abend begleiten würde, konnte ich nicht ahnen. Aber nun
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