Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
sich auf die Rostbratwurst.«
Die Wiesingers hätten sich vor dem Zweiten Weltkrieg einen im ganzen Reich bekannten Namen als Haus- und Hoflieferanten der Politprominenz während der Nürnberger Reichsparteitage verschafft, berichtete der Fahrer weiter. Nach dem Krieg sei es ihnen relativ schnell gelungen, die Entnazifizierung zu überstehen.
»Hans-Paul Wiesinger verhalf dem Unternehmen schließlich zum internationalen Durchbruch«, schwelgte Schönberger im Glanz der Vergangenheit.
Und Andi Wiesinger führte die Automatisierung der Massenproduktion und damit die Entlassung Hunderter von Mitarbeitern ein, dachte Paul die Unternehmensgeschichte zu Ende.
Sie näherten sich dem Firmensitz. Er beschloss, den alten Chauffeur in Ruhe zu lassen. Nur eine letzte Frage konnte er sich nicht verkneifen. Der Wagen rollte auf das Pförtnerhäuschen der Wiesinger-Fabrik zu, als sich Paul erkundigte: »Wissen Sie, wie Ihre berufliche Zukunft aussieht?«
Schönberger gab dem Pförtner einen Wink, worauf sich das Tor unverzüglich öffnete. »Ich habe nur noch ein knappes Jahr bis zur Rente. Bis dahin wird Herr Wiesinger junior sicherlich Aufgaben für mich finden.«
Paul kam nicht dazu, sich weitere Gedanken um Schönberger zu machen, denn sie erreichten den Verwaltungstrakt des riesigen Gebäudekomplexes. Alle Bauten waren schlichte Funktionsträger: schnörkellos und ohne Pathos errichtet. Weiße Fassaden, weitgehend fensterlos. Fleisch ist ein Produkt, das schnell, steril und möglichst abgeschieden verarbeitet werden will.
Schönberger öffnete die Tür und entließ Paul – zu dessen leisem Bedauern – aus dem angenehmen Komfort der Nobelkarosse.
12
Paul betrat ein ausgesprochen nüchternes Foyer, in dem ihm eine Empfangsdame mit strengem Blick entgegenkam.
»Herr Flemming«, stellte sie fest, und es klang wie ein Vorwurf. »Herr Wiesinger wird gleich für Sie da sein. Wenn Sie solange in unserer Besucherecke warten würden?« Sie dirigierte ihn ohne Umwege in eine Nische mit hellgrau gepolsterten Sesseln.
Paul nickte ihr dankend zu, setzte sich und schaute sich um. Alles wirkte überaus aufgeräumt und akkurat. Ein Eindruck, den er bereits bei der Fahrt über das Werksgelände gewonnen hatte. Es war penibel sauber; kein Härchen lag auf dem Boden. Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine ganz in Weiß gekleidete Gestalt, die ihn merkwürdig ansah, dann aber zügig weiterging. Paul blickte ihr nach: offenbar eine Mitarbeiterin in der obligatorischen Schutzkleidung.
Als Wiesinger nach ein paar Minuten nicht auftauchte, stand er auf und studierte eine Bildergalerie an der Wand: Mehrere statisch aufgenommene Fotografien zeigten verschiedene, auf Hochglanz polierte Messer beziehungsweise Beile. In ihrer glänzenden Sterilität wirkten diese Schlachtwerkzeuge wie Kunstgegenstände. Paul trat näher heran und las leise die Bildunterschriften: »Abhäutemesser, Stechmesser, Blockmesser, Rückenspalter, Knochensäge, Ausbeinmesser, Fleischzerlegesäge«. Weitere Aufnahmen zeigten laut Legende »Bolzenschussgerät«, »Auslösebügel« und »Schussbolzen«.
»Und aus all dieser Brutalität erwächst eine der vortrefflichsten Köstlichkeiten, die die Region seit Jahrhunderten hervorgebracht hat«, sagte eine selbstsichere Stimme hinter ihm.
Paul fuhr herum.
»Habe ich Sie erschreckt?« Andi Wiesinger – in elegantem, italienisch geschnittenem Anzug – stand ihm mit verschränkten Armen gegenüber. »Kommen Sie mit. Wir wollen keine Zeit verlieren.«
Schnellen Schrittes lotste Wiesinger ihn durch das Gebäude. Während sie unzählige Büros passierten, durch deren gläserne Türen Paul Frauen und vereinzelt auch Männer an PCs arbeiten sah, erläuterte Wiesinger die Grundstrukturen der Wiesinger-Geschäftspolitik. Paul hörte sehr genau hin. Doch solange er auch wartete: Mit keinem Wort ging Wiesinger auf den Tod seines Vaters und die sich daraus ergebenden Folgen für das Geschäft ein.
»Schön und gut«, sagte Paul nach einem fast zwanzigminütigen Marathon durch den Bürokomplex. »Wenn ich einen Bratwurstprospekt fotografieren soll, kann ich aber leider keine Fotos von Computerarbeitsplätzen gebrauchen.«
»Wieso nicht?« Wiesinger blieb abrupt stehen und stemmte die Arme in die Hüften. Eine Strähne seines ordentlich zurückgekämmten blonden Haares löste sich. »Wir sind ein moderner Betrieb. Das meiste läuft bei uns vollautomatisch und computergestützt.«
So wie bei den Knoblauchsländer Gemüsebauern,
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