Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Tankanzeige den Rahmen füllte.
»Was tun Sie?«, wollte Hannah wissen.
»Ich weiß noch nicht«, sagte Paul angespannt. Dann stand er unvermittelt auf. Schnellen Schrittes ging er hinüber zu seinem Schreibtisch, einer auf zwei grazilen Stützen liegenden Glasplatte.
Er schloss die Kamera an den USB-Anschluss seines Computers an und startete den großen Flachbildschirm, der den Schreibtisch dominierte.
Hannah war ihm neugierig gefolgt und beugte sich über seine Schulter.
Nach wenigen Sekunden war der Rechner hochgefahren. Paul wählte das Cockpit-Foto aus und stellte abermals den Ausschnitt ein, der ihn zuvor elektrisiert hatte.
»Siehst du das?«, hauchte er ergriffen.
»Ich sehe eine leere Benzinanzeige«, sagte Hannah mit vielen Fragezeichen in der Stimme.
»Genau!«, bestätigte Paul. »Der Tank ist leer. Die Nadel steht tief unten im roten Bereich, also auf Reserve.«
»Da steht sie immer, wenn der Motor aus ist«, merkte Hannah an.
»Der Motor war aber nicht aus, als ich diese Aufnahme gemacht habe«, sagte Paul.
»Tja«, sagte Hannah mit aufkeimender Ungeduld. »Dann war der Tank eben wirklich leer. Na und?«
Paul drehte sich langsam um und blickte Hannah direkt in ihre forschen blauen Augen. »Wie viele Liter fasst deiner Meinung nach der Tank eines Porsches?«, wollte er wissen.
Hannah zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht fünfzig. Oder sechzig. Keine Ahnung.«
»Und glaubst du, dass eine Tankfüllung bis nach München und zurück reicht?«
Hannah grinste: »Wollen Sie mich veräppeln? Die reicht für zwei Mal München!«
»Genau«, nickte Paul. »Ein voll getankter Porsche schafft leicht die doppelte Distanz.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Hannah vorsichtig blinzelnd.
Paul, der ihr schon vorher ein bisschen von dem Mord an Wiesinger erzählt hatte, berichtete ihr nun von dem Alibi, das sich Andi und Doro gegenseitig gegeben hatten. Sie waren angeblich die ganze Nacht zusammen in München gewesen.
»Herr Schönberger, der Chauffeur der Familie Wiesinger, hat zu Protokoll gegeben, dass er den Porsche betankt hatte, bevor der Junior zur Vernissage nach Schwabing aufgebrochen war. Wiesinger hat das übrigens selbst bestätigt.«
»Sie meinen«, Hannah wurde bleich. »Das bedeutet ja, dass Wiesingers Alibi …«
»… geplatzt oder zumindest in Frage gestellt ist«, vollendete Paul den Satz. Ja, genau das war seine Schlussfolgerung, und er fragte sich aufgebracht, was er mit dieser Erkenntnis anfangen sollte.
Hannah fand die Fassung schneller wieder als er. »Ist dieser Chauffeur denn ein verlässlicher Mensch?«, hakte sie nach.
Paul nickte betroffen. »Ja, absolut. Er steht seit Jahrzehnten in den Diensten der Wiesingers. Eine treue Seele. Und sicherlich absolut korrekt.«
»Na, dann«, sagte Hannah mit hochgezogenen Brauen, »haben Sie ein Problem mit einem neuen Auftraggeber, der Sie bestimmt gut bezahlen würde.«
11
Als ein Sonnenstrahl seinen Weg durch das ovale Oberlicht bis ans Kopfende seines Schlafsofas fand und Paul weckte, ahnte er, dass er wieder einmal viel zu spät dran war. Ein Blick auf die Digitalanzeige seines Radioweckers verriet ihm, dass das Frühprogramm von Radio Gong schon seit einer guten Stunde ungehört durch sein Atelier plänkelte. Paul sprang auf, verzichtete auf seine morgendlichen Liegestütze und Kniebeugen genauso wie auf eine Rasur und griff sich nach hastiger Katzenwäsche eine Jeans und ein T-Shirt.
Er hatte am heutigen Freitag wirklich sehr viel zu erledigen, dachte er, während er über die ausgetretenen Treppen hinunter zum Weinmarkt lief. Er musste sich dringend eingehender mit seiner Fotostrecke über die Felsengänge beschäftigen, sich gleichzeitig über seinen Wurstprospekt Gedanken machen, Katinka über seine nächtliche Entdeckung informieren und nicht zuletzt Blohfeld bei Laune halten, um nicht von den Zeitungsaufträgen abgekoppelt zu werden. Kurz und gut: Er musste wieder einmal viel zu viele Dinge unter einen Hut bringen und würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach hoffnungslos verzetteln. Aber bevor er sich darüber den Kopf zerbrechen konnte, brauchte er erst einmal ein paar frische Brötchen, um sie – dick mit Salzbutter bestrichen – bei einer Tasse Milchkaffee zu genießen und dabei auf Touren zu kommen.
Paul trat mit morgendlichem Schwung auf den Platz, um zum Bäcker zu gehen, als er eine protzige schwarze Mercedes-Limousine auf einem der raren Anwohnerparkplätze bemerkte. Er fragte sich, welcher
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