Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Fahrer. Man merkte ihm an, dass er sich bei dieser Fragerei unwohl fühlte. »Allerdings habe ich bisher hauptsächlich die Fahrdienste für den Senior übernommen.«
Paul schwieg, während die Hausfassaden an ihm vorbeiglitten. Auf eine so direkte Art konnte er dem erfahrenen Mann am Steuer nicht beikommen. Wenn er etwas Erhellendes über die Wiesingers herausbekommen wollte, musste er deutlich subtiler vorgehen. Er musste einen Köder auswerfen, dem Schönberger nicht widerstehen konnte. Am besten wäre es wohl, ihn bei der Ehre zu packen. Paul kramte weitere Details über die Wiesingers aus seinem Gedächtnis und startete einen neuen Versuch.
»Es heißt ja: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, sagte Paul wie beiläufig, während er weiter aus dem Fenster sah. Paul dachte dabei an die Schüsse im Salon und die unrühmliche Trennung Hans-Paul Wiesingers von seiner Frau: seine Freiheit gegen ihre gesicherte Zukunft.
Schönberger reagierte nicht.
»Man sagt, dass auch Hans-Paul Wiesinger die ein oder andere Frauengeschichte am Laufen hatte«, redete Paul weiter. Er registrierte, wie sich die Hände des Fahrers fester ums Lenkrad schlossen.
»Das ist Unsinn«, sagte Schönberger scharf. »Herr Wiesinger war sicher kein einfacher Mensch. Er war mitunter sehr direkt und energisch, manchmal impulsiv, aber immer fair.«
Er legte eine Pause ein. Die Häuserkulisse wechselte in triste Südstadtmonotonie. »Mir sind diese Gerüchte natürlich zu Ohren gekommen«, räumte Schönberger dann kleinlaut ein.
»Hin und wieder gab es auch Hinweise auf die eine oder andere Liaison. Aber Herr Wiesinger war ein sehr diskreter Mensch – es gab nie irgendwelche Skandale oder schmutzige Geschichten in der Presse über ihn zu lesen. Er war ein Gentleman und hat seine Angelegenheiten entsprechend dezent geregelt.«
Was auch immer das heißen sollte, dachte Paul.
»Der Sohn hält es wohl nicht so mit der Diskretion?«, forderte er den Chauffeur abermals heraus.
»Wenn Sie von Andi Wiesinger sprechen: Ja, vielleicht sollte er mitunter ein wenig zurückhaltender sein.«
Bevor sich Paul über die Offenheit des Fahrers freuen konnte, wurde ihm die zweite Botschaft dieser Aussage bewusst. »Es gibt wohl noch einen zweiten Sohn?«
»Ja«, sagte Schönberger.
»Verraten Sie mir mehr?«, fragte Paul.
»Da gibt es nicht viel zu verraten: Stephan Wiesinger, zwei Jahre älter als Andi. Stephan war lange Zeit der Kronprinz und sollte das Unternehmen irgendwann einmal übernehmen.«
»Aber?«
»Stephan hatte von jeher andere Interessen«, sagte Schönberger, wobei so etwas wie leises Bedauern in seiner Stimme mitschwang. »Er studierte Medizin und nahm eine Stelle als Internist in einem Lübecker Krankenhaus an. Er hat eine Frau und zwei Kinder: Zwillinge. Sie dürften jetzt etwa im Teenager-Alter sein.«
»So, wie Sie das sagen, klingt es, als gäbe es wenig Kontakt zum Rest der Familie.«
Schönberger nickte. »Da haben Sie Recht. Stephan hat nie den richtigen Zugang zur Rostbratwurstproduktion gefunden. Er hat – trotz all der Bemühungen seines Vaters – unser Geschäft nicht zu schätzen gewusst.«
»Vielleicht wollte er einfach kein Metzger werden.«
Schönbergers Schultern verkrampften sich. »Es geht um mehr als um den Metzgerberuf. Die Nürnberger Wurst … Sie als Einheimischer sollten eigentlich wissen, welche Bedeutung die Profession der Wiesingers für unsere Stadt hat.«
Paul verstand die Schelte sehr wohl, wollte aber provozieren: »Die Wiesingers sind doch gar keine echten Franken …«, deutete er an.
Schönberger gab das erste Mal während ihrer Fahrt so stark Gas, dass Paul den Motor des Wagens hören konnte. »Natürlich sind sie Franken«, empörte sich Schönberger. »Hans-Paul Wiesinger ist, ehem, war Ehrenbürger der Stadt und überdies Träger des Bundesverdienstkreuzes.«
»Mag sein«, sagte Paul, »aber der Name Wiesinger ist nun einmal nicht fränkisch.«
»Der Name Flemming ist es ebenso wenig«, giftete ihn Schönberger an.
»Okay, entschuldigen Sie«, gab Paul klein bei, denn schließlich war er selbst ein halber Preuße. Seine Eltern hatte erst der Krieg beziehungsweise die Vertreibung hierher verschlagen.
»Die Wiesingers sind seit vielen Generationen fest in der Metzgerzunft verhaftet«, sagte der Chauffeur stolz. »Die Familie stammt ursprünglich aus der Gegend um Bad Tölz. Hans-Paul Wiesingers Urgroßvater verlegte sein Geschäft nach Nürnberg, aber erst sein Sohn spezialisierte
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