Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
dachte sich Paul. Er forschte in Wiesingers Gesicht. Dessen Augen bewegten sich unentwegt und schienen Pauls Blick auszuweichen. Gleichwohl stand Wiesinger felsenfest mit leicht gespreizten Beinen vor ihm. Mimik und Gestik schienen sich zu widersprechen. Paul wollte sich eine Taktik zum weiteren Vorgehen zurechtlegen, als Wiesinger ihn unvermittelt angrinste: »Ich werde Ihnen mal was sagen. Vielleicht verstehen Sie unsere Branche dann ein wenig besser.«
Zu Pauls großer Überraschung legte ihm Wiesinger kumpelhaft seinen Arm um die Schultern. »Die fränkischen Bratwursthersteller sind von jeher darauf bedacht, dass kein Unbefugter in ihrem Betrieb spioniert und das Geheimnis der Rezepturen – vor allem der Kräutermischung – aufdeckt. Jeder – auch Sie, Flemming – ist in den Augen des fränkischen Metzgermeisters ein potenzieller Bratwurstagent.« Wiesinger lockerte seinen Griff um Pauls Schultern. »Der Großteil unserer Produktion findet aus dieser Tradition heraus hinter verschlossenen Türen statt. Das mag für Sie lächerlich klingen, aber es ist uns bitterernst damit: Die Tabelle mit den Daten, nach denen die Gewürze abgewogen werden, sind mit einer fünfstelligen Zahlenkombination gesichert in einem Tresor gelagert.«
»Das klingt wirklich ein wenig seltsam«, räumte Paul ein.
»Wir müssen uns mit allen Mitteln gegen Spionage wappnen«, sagte Wiesinger energisch und strich die widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. »Die großen Nürnberger Wurstfabrikanten kommen zusammen auf einen Ausstoß von über einer Milliarde Würstchen im Jahr. Haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was für einer enormen Wirtschaftskraft das entspricht? So etwas lockt nun einmal Neider an.«
»Das mag sein. Aber sagen Sie mir bitte: Wenn ich all das nicht fotografieren soll, was darf ich in Ihrem Prospekt zeigen?«
»Die Essenz«, sagte Wiesinger leichthin. »Wir wollen die Wurst so zeigen, wie sie ist: als vollendetes Meisterwerk.«
Paul bedachte sein Gegenüber mit einem anerkennenden Blick. »Das haben Sie schön gesagt. Aber das in Fotos auszudrücken ist natürlich nicht ganz einfach.«
Wiesinger raunte Paul vertrauensvoll zu: »Ich möchte, dass Sie die Bratwurst verstehen lernen – ihre Erotik für den Gaumen. Wussten Sie, dass bei einem Münchner Starkoch, einem guten Freund von mir, seit zwanzig Jahren Wiesinger-Würstchen süßsauer mariniert mit einem Hauch Ingwer der Appetithappen Nummer eins sind?«
»Nein«, sagte Paul zweifelnd.
»Unsere Würstchen sind jeweils nur der Auftakt, die knusprige Verheißung. Mein Münchner Freund serviert zum Beispiel danach Trüffel-Nudeln oder Angel-Dorsch mit Lorbeerduft.«
»Sie meinen also, ich soll die Nürnberger Rostbratwurst als eine Art Kunstwerk verstehen. Ich soll den Betrachter verführen und ihm zeigen, wie kostbar Wiesinger-Würstchen sind.«
Wiesinger sah ihn zufrieden an. »Endlich haben Sie unsere Philosophie begriffen. Ganz wie mein Münchner Freund.«
»Das klingt, als würden Sie jeden Abend bei diesem Starkoch speisen«, stellte Paul fest.
»Wenn ich in München bin, meistens«, sagte Wiesinger.
»Am Abend, als Ihr Vater starb, auch?«, fragte Paul vorschnell.
Andi Wiesinger reagierte erwartungsgemäß misstrauisch.
»Warum interessiert Sie das?«
Paul wiegte den Kopf und schwieg. Er war erstaunt, als Wiesinger weitersprach.
»Hören Sie, Flemming.« Wiesinger sah Paul ernst an. »Es ist mir durchaus bewusst, dass mich im Moment alle Welt für den großen Buhmann hält. Aber eines kann ich Ihnen versichern: In der Todesnacht meines Vater war ich mit dem Gegenteil dessen beschäftigt, was Tod bedeutet.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Paul.
»Sie werden es bald verstehen«, sagte Wiesinger. Er tauschte seine bis eben zur Schau gestellte Vertraulichkeit gegen eine eiserne Maske. Paul wunderte sich darüber nur kurz, denn er hörte hinter sich das Klackern von Schuhen mit hohen Absätzen. Als er sich umdrehte, sah er zu seiner Überraschung Doro Wiesinger in einem farbenfrohen Kleid und aufwendig hochgestecktem Haar auf sie zukommen. Sie erweckte den Eindruck, als wäre sie auf dem Weg zu einer Cocktailparty.
Lächelnd reichte Frau Wiesinger ihm die Hand und deutete einen Knicks an. »Herr Flemming, freut mich sehr! Ich hoffe, Sie finden ausreichend Motive für Ihre Bilder.«
Ein wenig viel der Ehre für den Besuch eines stinknormalen Fotografen, argwöhnte Paul. Ihr gekünsteltes Lächeln behagte ihm nicht, zumal er Doro
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