Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Die Leute hatten sich damals damit beholfen, dass sie schon im Winter große Mengen Eis unter die Erde transportierten. Eis, das im Sommer langsam abschmolz und die Temperaturen niedrig hielt. Das Eis wurde durch Eisschächte nach unten geworfen. Die waren recht tief und daher ziemlich gefährlich.«
»Wie ein ungesicherter Aufzugsschacht«, verglich Hannah.
»Ja«, bestätigte Paul. »Auch heute noch macht man besser einen großen Bogen um die Eisschächte.«
Doch Hannahs Wissensdurst war damit nicht gestillt. »Das erklärt die Entstehung der Keller. Aber was ist mit den Felsengängen? Einige davon sind doch viel älter als die Geschichte des Bierbrauens in Nürnberg.«
»Sie dienten vorwiegend der Wasserversorgung«, erklärte Paul und wunderte sich darüber, dass Antoinette einen so desinteressierten Eindruck machte.
»Antike Wasserleitungen?«, fragte Hannah ungläubig.
»Nürnberg steht auf mehreren Schichten unterschiedlichen Gesteins. Dieser Schichtenkomplex – er nennt sich übrigens Bunter Keuper – ist zwischen dreihundert und fünfhundert Meter dick. Die unterste Schicht besteht aus Benkersandstein oder auch Gipskeuper genannt.«
»… und Gips ist wasserundurchlässig«, folgerte Hannah. Feiner Kies knirschte unter ihren Schuhen.
Paul stimmte zu. »Es gilt heute als einwandfrei erwiesen, dass die älteren Felsengänge zur Wassergewinnung und zum -transport dienten. Unsere Vorfahren haben sich ziemlich geschickt der hydrologischen Eigenschaften der geologischen Strukturen bedient.«
»Wow«, sagte Hannah. »Was Sie alles für Wörter kennen. Würden Sie nicht so verwegen aussehen, würden Sie einen prima spießigen Erdkundelehrer abgeben.«
»Danke für das Kompliment«, sagte Paul bissig und war ein wenig beleidigt. Sie folgten noch eine Weile den leidlich gut beleuchteten und ausgewiesenen Pfaden, bevor Paul nach einem Blick auf seine mitgeführte Wegeskizze die kleine Gruppe in einen Seitenarm dirigierte.
Alle drei schalteten ihre Taschenlampen an. Sie mussten enger zusammenrücken, denn der Gang wurde zusehends schmaler.
»Und aus welchem Jahr stammen die ältesten Stollen?«, wollte Hannah wissen.
»Keine Ahnung«, versuchte Paul das Lehrerimage abzustreifen. »Die ersten Gänge wurden von Privatleuten gegraben. Darüber existieren keine Unterlagen mehr.«
»Wenigstens ungefähr?«, Hannah blieb beharrlich.
»Im Stadtarchiv liegt eine Rechnung von, lass mich überlegen, 1383 oder so. Darin ist von einem ›heimlichen Ding im Untergrund‹ die Rede. Man geht davon aus, dass dies der erste Hinweis auf eine von der Stadt bezahlte Grabung ist.«
»Heimlich musste das alles sein, damit niemand von den Wasseradern erfahren und sie vergiften konnte?«, folgerte Hannah.
Paul grinste sie an. »Wenn du nicht so forsch aussehen würdest, würdest du eine gute Streberin abgeben.« Seine Unaufmerksamkeit bereute er im nächsten Augenblick, als er sich den Kopf an einer hervorstehenden Felsspitze stieß. »Verdammt«, fluchte er leise und hörte Hannah kichern.
Nach ungefähr dreißig Metern hatten sie eine weitere Abzweigung erreicht. Paul richtete den Strahl seiner Lampe in den kreuzenden Gang. Er war nach oben hin abgerundet. Auf dem Boden war eine sorgfältig verlegte Reihe Ziegel zu sehen.
»Das hier ist ein solcher Wasserstollen«, erklärte Paul. »Die Wasserrinne ist später abgedeckt worden.«
Dann leuchtete er tiefer in den Gang hinein, so dass die Mädchen den Verlauf der Rinne bis zu einer Kurve in etwa fünfzehn Metern Entfernung verfolgen konnten. »Es gab mehrere leistungsstarke Röhren, die das Wasser bis in die City geführt haben«, sagte Paul. »Die Leitungen waren die Achillesferse der Stadt. Kein Feind durfte ihren genauen Verlauf erfahren.«
»Gab es da wohl schlechte Erfahrungen?«, fragte Hannah.
»Wenn ich es dir sage, nennst du mich dann Geschichtslehrer?«
Hannah grinste. »Nur Mut.«
»Also gut: Um 1550 hatte Markgraf Albrecht Alcibiades die Stadt belagert. Er erfuhr von einigen weniger geschützten Wasserzuleitungen, ließ sie über Nacht freilegen und zerstören. Daraufhin trocknete der Schöne Brunnen am Hauptmarkt für längere Zeit aus.«
»Kompliment: Sie haben’s wirklich drauf«, sagte Hannah diesmal ganz ohne ironischen Unterton.
Paul holte ein kompaktes Aluminiumstativ aus seinem Rucksack. Er schraubte seine Kamera darauf und verteilte an Hannah und Antoinette jeweils ein über Infrarot auszulösendes Blitzgerät. Auf zwei weiteren leichten
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