Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
den willkommenen Snack. Das knusprige Fleisch erfüllte augenblicklich seinen Gaumen mit dem einzigartigen Aroma. Er schmeckte die feine Würze mit einem Hauch Majoran, die Milde des Gehäcks und die leise dagegen ankämpfende beißende Note der mit Bedacht verkohlten Haut. Paul fragte sich zum wiederholten Mal, warum man sich an Nürnberger Würstchen selbst dann niemals überaß, wenn man sie jeden Tag haben konnte. Ein Mysterium – und das seit hunderten von Jahren.
»Hat dir Blohfeld heute Nachmittag freigegeben?«, erkundigte sich Paul bei Antoinette.
Sie nickte mit gequälter Miene. »Ich habe mir zwei freie Stunden erkämpft. Nach Herrn Blohfelds Verständnis müssten Journalisten eigentlich vierundzwanzig Stunden am Tag arbeiten.«
»Gehen wir?«, forderte Hannah ungeduldig zum Abstieg in die Tiefe auf.
Paul registrierte anerkennend, dass die beiden Mädchen mit langen Hosen, wärmenden Sweatshirts und vor allem trittsicheren Wanderstiefeln gut für die Tour durch die Unterwelt gerüstet waren.
»Okay«, willigte er ein und tastete nach seinem Schlüssel.
Trockene Kälte schlug ihnen entgegen, als sie das zu den Felsenkellern führende Treppenhaus betraten.
»Eines kann ich nicht verstehen«, sagte Hannah in ihrer üblichen saloppen Art, »jedes Kind in Nürnberg kennt die Felsengänge, weil sie uns hier schon als Schüler durchgeschleust haben. Wo soll es also unentdeckte Geheimnisse geben, die eine teure Fotodokumentation rechtfertigen?«
Paul schmunzelte. »Oh, die gibt es tatsächlich. Meine Auftraggeber aus dem Rathaus haben das ihren Vorgängern zu verdanken. Der Rat der Freien Reichsstadt Nürnberg war immer peinlichst darauf bedacht, nicht nur den Verlauf der Gänge geheim zu halten, sondern sogar die Existenz der unterirdischen Anlagen. Über Jahrhunderte hinweg waren die Stollen topsecret. Die letzte offizielle Erfassung stammt von Baumeister Endres Tucher – und entstand ungefähr 1460!«
Hannah neigte zweifelnd den Kopf. »Bleibt die Frage, warum man die Gänge überhaupt in den Boden gegraben hat – und wer den teuren Spaß bezahlt hat.«
Berechtigte Fragen, dachte Paul. »Ich glaube kaum, dass man das so pauschal beantworten kann.«
»Versuchen Sie’s, Flemming«, stachelte ihn Hannah an.
»Wir sind zwei neugierige Mädels.« Sie lächelte ihrer Freundin zu, doch die verschränkte missmutig die Arme.
»Viele der Gänge sind im Grunde nichts anderes als verbindende Korridore zu verschiedenen Kellern, die meisten sind kaum mehr als sechzig Zentimeter breit und gerade so hoch, dass man aufrecht darin gehen kann.« Paul formte mit den Händen eine schmale Flucht. »Etliche Querverbindungen sind erst im letzten Krieg entstanden, als die Gänge als Luftschutzkeller dienten und Tausenden Schutz vor den Bombenangriffen geboten haben.« Jetzt breitete er seine Hände aus.
»Die zwischen den Gängen liegenden Felsenkeller dagegen sind weitaus großflächiger und haben oft sogar mehrere Stockwerke. Sie sind alle in Handarbeit entstanden – mit Hacke und Meißel.«
»Und?«, bohrte Hannah weiter.
»Die vielen Geschichten über geheime unterirdische Soldatenverlegungen, Schatzkammern und jede Menge Gruselstorys kennst du ja selbst. Nach alldem, was ich aus den Aufzeichnungen aus dem Stadtarchiv weiß, ging es in Wahrheit aber immer nur ums Bier.« Während sie den gut beleuchteten und in den vierziger Jahren kostspielig ausgebauten Korridor verließen und ins eigentliche Reich der geheimnisumwitterten Gänge und Fluchten einbogen, klärte sie Paul bereitwillig über den großen Durst der Nürnberger auf gutes und vor allem gut gekühltes Bier auf. Er berichtete von den konstanten Temperaturen im felsigen Untergrund der Stadt: nie weniger als acht und nie mehr als zwölf Grad. Dazu eine relativ verlässliche Luftfeuchtigkeit. Ideale Bedingungen zum Vergären und Einlagern von Bier.
»Um sich zu besaufen, haben die Leute diese riesigen Katakomben gegraben?«, fragte Hannah und tippte sich zweifelnd an die Stirn.
Paul nickte amüsiert. Er erzählte von den bescheidenen Anfängen, den kleinen Kellern der Privatbrauereien, die es zu Dutzenden in der Altstadt gab. »Sie wurden später durch Querstollen miteinander verschmolzen, bis sie schließlich einen riesigen unterirdischen Kellerkomplex bildeten. Die Brauereien wurden größer, und alle nutzten sie die Keller, weil sie dort optimale Bedingungen vorfanden. Außer in heißen Sommern, denn dann stieg das Thermometer selbst im Untergrund.
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