Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
letzten Wurstbrötchens in seinem Mund, doch würde er ein weiteres ganz sicher nicht ablehnen.
Während der Metzger drei dunkle Würstchen vom Rost seiner Grillplatte nahm und sie in ein bereits aufgeschnittenes Brötchen legte, fragte Paul neugierig nach: »Verraten Sie mir das Rezept Ihrer Würstchen? Sie produzieren doch noch selbst, oder?«
Der Metzger nickte bedächtig. »Schon, aber das ist ja kein Geheimnis.«
»Nicht? Die großen Wurstfabriken machen aber sehr wohl eines daraus. Die Fabrikationshallen sind tabu.«
»Das liegt wohl daran, dass niemand die Fabrikationsmethoden abschauen soll«, meinte der Metzger. »Die Rezeptur selbst ist allgemein zugänglich. Die Zutaten wurden zuletzt im März 1998 vom städtischen Ausschuss für Recht, Wirtschaft und Arbeit verbindlich festgeschrieben.« Er reichte Paul das Brötchen. »Grob entfettetes Schweinefleisch von mittelgrober Körnung, ohne Brätanteil, nicht umgerötet, im engen Schafsaitling auf sieben bis neun Zentimeter abgedreht. Pro Stück zwanzig bis fünfundzwanzig Gramm. Dazu kommt die jeweils individuelle Majoranwürzmischung.«
Paul biss hinein. »Mmm, da schmeckt man den Unterschied zur Meterware aus der Wurstfabrik.«
»Meinen Sie?«, fragte der Metzger mit traurigem Lächeln. »Ich glaube kaum, dass Sie bei einem Blindtest wirklich etwas merken würden.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, protestierte Paul schmatzend.
»Fakt ist, dass die Wurstproduktion für uns Kleinbetriebe zu teuer geworden ist. Ich werde ab kommenden Monat Wiesinger-Würstchen ins Sortiment nehmen, sonst lege ich bei jeder Wurst drauf.«
Paul schluckte hinunter. »Das können Sie doch nicht machen!«
»Wieso nicht? Auf dem Christkindlesmarkt gibt es nur noch einen einzigen Stand, der die Würstchen traditionell auf Holzkohle statt auf Gasflammen grillt. Alles wird vereinheitlicht. So ist nun einmal der Lauf der Dinge.«
»Aber der Preis darf doch nicht alles entscheiden«, wehrte sich Paul beharrlich dagegen, dass sein Haus- und Hofmetzger die – für Pauls Geschmack – beste Bratwurst der Stadt abschaffen wollte.
»Leider doch«, sagte der Metzger und wischte sich mit den dicken Fingern über die Stirn. »Immer weniger Kunden denken so wie Sie, Herr Flemming. Ich habe da neulich etwas Interessantes in der Zeitung gelesen. Moment, ich habe den Artikel sogar aufgehoben.« Der Metzger wühlte in einem Zettelstapel neben der Kasse. »Da haben wir es schon: Hier steht, dass die Deutschen 1970 ein Drittel ihres Geldes für Nahrungsmittel ausgegeben haben. Heute sind es nur noch vierzehn Prozent. Und zweiundsechzig Prozent der Leute sagen, dass für sie der Preis bei Nahrungsmitteln wichtiger ist als die Qualität.«
»Trotzdem darf eine Qualitätswurst nicht sang- und klanglos untergehen«, unternahm Paul einen letzten Rettungsversuch.
»Danke für Ihre Treue, Herr Flemming«, sagte der Metzger. »Aber Wiesinger-Würstchen müssen nicht schlechter sein als meine – und ich will nicht den Rest meiner Kundschaft an die Discounter verlieren.«
Reichlich desillusioniert verließ Paul die Metzgerei. Eine Schar Spatzen auf der Suche nach Brotkrumen nahm Reißaus vor ihm, als er über das Kopfsteinpflaster in Richtung seines Hauses ging.
Er würde als Nächstes seine Kameraausrüstung ins Atelier bringen, kurz unter die Dusche springen und sich dann wie geplant der Kür widmen: Blohfelds Rechercheauftrag bei den Heimatfreunden. Mit etwas Glück könnte er noch für heute einen Termin vereinbaren.
15
Als Paul nach einem vielversprechenden Telefonat mit dem Heimatbund bereits eine gute Stunde später mit seinem Rad von der Burgschmietstraße in Richtung Großweidenmühlstraße abbog, mischte sich in die schwüle Spätnachmittagsluft ein angenehm frischer Dunst, der aus der nahen Pegnitz aufstieg. Paul ließ das Klinikum Hallerwiese linker Hand liegen, passierte ein wunderschön in Stand gesetztes, sandsteinernes Eckhaus aus der Gründerzeit und rollte über den Großweidenmühlsteg.
Die Geschäftsstelle des Fränkischen Heimatbundes residierte in einem modernen Gebäudekomplex. Paul betrachtete die geschwungene schnörkellose Außenfassade aus wasserblau bedampftem Glas. Das Ensemble fügte sich trotz seiner beachtlichen Größe harmonisch in die Umgebung ein, verschmolz farblich mit dem Blau des Himmels und spiegelte sich in der Pegnitz. Paul war einigermaßen verblüfft über den unfränkischen Baustil, den die Heimatfreunde für ihr Domizil gewählt hatten.
Eine
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