Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Die schläft natürlich.«
»Ich muss sie sprechen«, drängte Paul. »Es ist sehr wichtig.«
»Unmöglich. Ich bin doch nicht bekloppt und wecke sie.«
»Ich habe einen Drohanruf bekommen. Womöglich ist auch deine Mutter in Gefahr. Hattet ihr ebenfalls einen Drohanruf?«
»Der einzige Drohanruf in dieser Nacht ist Ihrer, Flemming. Und jetzt lassen Sie mich schlafen. Ich habe genug ätzende Dinge erlebt in den letzten Tagen.« Hannah legte auf.
22
Am Sonntagmorgen, bei strahlendem Sonnenschein, erschien ihm der nächtliche Anruf wie ein böser Traum. Er verwarf den Gedanken, doch noch die Polizei zu alarmieren. Was hatte er denn für Beweise?
Paul schlug sein Auftragsbuch auf: Für die nächste Woche hatte sich eine junge Frau zu einem Shooting für eine Fotomappe angemeldet. Dann musste er sich natürlich weiter um die Felsengänge kümmern. Und nicht zuletzt wartete Andi Wiesinger auf seine Vorschläge für die neue Imagebroschüre.
Damit war Paul wieder beim Thema Wiesinger. Wenn Blohfeld es vorzog abzutauchen, würde Paul persönlich in Sachen Bratwurst aktiv werden müssen. Ihm fiel wieder die Begegnung mit der verunsicherten Wiesinger-Beschäftigten ein, die ihm den Namen des geschassten Mitarbeiters zugespielt hatte. Paul wog einen Moment das Für und Wider eines Alleingangs ab und entschied sich dann, die Sache in Angriff zu nehmen.
Den Namen fand er auf Anhieb im Telefonbuch: Julius Imhof, ein typisch Nürnberger Familienname. Imhof wohnte im Stadtteil St. Leonhard, direkt am Südwestring. Paul würde abermals sein Auto benötigen.
Wieder waren die Temperaturen schon am Morgen auf schier unerträgliche Höhen gestiegen. Während Paul in seinem Renault saß und zügig die große Kreuzung am Plärrer passierte, dachte er über den nächtlichen Anruf nach.
Selbst wenn er ihm nun weit weniger Angst einflößte als noch ein paar Stunden zuvor, hätte er doch gern den Grund für den Telefonterror gewusst. Der Anruf musste in Zusammenhang mit dem Fall Wiesinger oder aber mit dem Fränkischen Heimatbund stehen. Der Heimatbund war ihm suspekt. Nach seinem Gespräch mit Jungkuntz, dem Vorfall mit seinem Fahrrad und nach alldem, was ihm Katinka erzählt hatte, musste in diesem Verein etwas oberfaul sein. Doch auch bei den Wiesingers witterte er Ungereimtheiten, je länger er mit dieser merkwürdigen Familie und ihrer Firma zu tun hatte: Der Hinweis auf Julius Imhof war das eine. Schwerer noch wog die Sache mit Blohfeld. Er hatte bei den Wiesingers recherchiert und war nun unauffindbar, Antoinette sogar tot. Doch Moment, konnte er so einfach einen Zusammenhang zwischen dem Wiesinger-Mord und Antoinette herstellen? Außerdem waren der Heimatbund und die Wiesinger-Wurstfabrik seriöse und bodenständige Institutionen, die es wohl kaum nötig hatten, auf solche Wild-West-Aktionen zurückzugreifen. Und schließlich, warum sollte Andi Wiesinger ihm drohen lassen, wenn er ihn gleichzeitig für einen Imageprospekt engagierte und ihn damit überhaupt erst in die Lage versetzte, in dessen Betrieb herumzuschnüffeln?
An einer Kreuzung musste Paul scharf bremsen: In seinen Gedanken versunken, hätte er um ein Haar die rote Ampel übersehen.
Als sie auf Grün sprang, ordnete sich Paul auf der linken Spur ein, da er bald in eine der abzweigenden Wohnstraßen abbiegen musste. Er fuhr über die Jansenbrücke in Richtung Sündersbühl, warf einen Blick auf die Eisenbahnschienen und Lokschuppen zu seiner Linken. Kurz darauf setzte er den Blinker.
Das Haus der Familie Imhof grenzte unmittelbar an eine der lichtdurchlässigen Schallschutzwände zum Südwestring. Als Paul das schlichte Einfamilienhaus aus den Sechzigerjahren entdeckte und wenig später das schmale Grundstück betrat, fühlte er sich angespannt und auf unbestimmte Art unwohl. Er hörte das gedämpfte Rauschen des Verkehrs, sah, wie die Schatten der Lastzüge über das versengte Gras der kleinen Wiese huschten, und gewann einen beklemmenden Eindruck von der Lebenssituation der Imhofs: Hier hatte sich jemand den Traum von den eigenen vier Wänden erfüllt – ein Traum allerdings, der eingebettet war in einen Alptraum aus Beengtheit, Verkehrslärm und Autoabgasen.
Er drückte den Klingelknopf neben einem vergilbten Namensschild. Die Frau, die ihm kurz darauf öffnete, war anders, als es sich Paul vorgestellt hatte. Sie war klein. Er überragte sie mit seinen einsfünfundachtzig um gut und gern zwei Köpfe. Paul schätzte sie auf Mitte fünfzig, aber
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