Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
geschriebene Datum »XIV DEC. MDCCCXXXIII« las.
Es musste kalt gewesen sein an jenem Schicksalstag im Leben des jungen Hauser. Gut gestimmt hatte Hauser sich auf den Weg gemacht, denn ein Fremder wollte sich mit ihm treffen und ihm endlich seine wahre Identität preisgeben. Ob Hauser ernsthaft daran geglaubt hatte, bezweifelte Paul. Wie auch immer: Für Hauser sollte es eigentlich nur ein kurzer Spaziergang auf vertrauten Pfaden werden, denn er kannte den Hofgarten von unzähligen Gelegenheiten. – Andererseits wusste er auch um seine vielen, kaum einsehbaren Seitenwege und die Einsamkeit, die an kalten Tagen in der ausgedehnten Parkanlage herrschte. Hauser beließ es an jenem 14. Dezember nicht dabei, eine übersichtliche Runde um die Beete vor der Orangerie zu machen, sondern entfernte sich – auf der Suche nach seiner unbekannten Verabredung – von den anderen Spaziergängern. Warum, fragte sich Paul und zog den Kragen seiner Jacke enger zusammen, warum war Hauser dieses Risiko eingegangen?
Es hatte vor dem 14. Dezember ja schon die beiden anderen Attentate auf Hauser gegeben. Darüber hinaus immer wieder Warnungen. Hauser war nicht dumm gewesen; er hätte geahnt haben müssen, dass er sich mit einsamen Spaziergängen wie diesem einem Wagnis aussetzte. Hatte der junge Mann der Gefahr ganz bewusst getrotzt oder hatte er nach all dem, was ihm bereits widerfahren war, ein so ausgeprägtes Gottvertrauen, dass er meinte, ihm könnte niemand ernstlich etwas anhaben?
Paul blickte sich nachdenklich um. Gegenüber dem Denkmal war, nur von ein paar Sträuchern getrennt, eine Lichtung. Paul wog ab: Wenn er selbst überraschend angegriffen würde, hätte er die nahe Lichtung für einen Fluchtversuch genutzt. Denn hier, zwischen den Bäumen und Büschen, gab es kaum Ausweichmöglichkeiten. Auch Hauser hätte versuchen müssen, die freie Fläche zu erreichen.
Doch – soweit Paul wusste – hatte er es nicht getan. Von dem Versuch zu fliehen oder sich entschieden zur Wehr zu setzen, hatte Paul nie etwas gehört oder gelesen. Hausers Kampf um Leben oder Tod war höchstwahrscheinlich still und schnell verlaufen. Vielleicht, dachte Paul, hatte Hauser es aufgegeben, sich seinem von Geburt an vorgegebenen Schicksal noch länger zu entziehen. Lebensgefährlich verletzt war Hauser nach dem Angriff liegen geblieben – der letzte Kampf war verloren.
Wieder wurde das Laub um Pauls Füße von einer Böe emporgeblasen. Doch das Pfeifen des Windes wurde von einem anderen Geräusch übertönt. Es war ein Schwall mehrerer Hupen. Paul hob den Kopf und versuchte die Herkunft des Hupkonzerts zu orten. Es musste von der Promenade kommen.
Da Henlein noch nicht am Treffpunkt, dem Hauser-Denkmal, angelangt war, beschloss Paul, ihm ein Stück entgegenzugehen und schlug den Weg zurück zur Orangerie ein. Er hatte den Prachtbau kaum erreicht, als er den Tumult bemerkte, der wie vermutet von der nahen Promenade ausging.
Paul beschleunigte sein Tempo; er hatte mit einem Mal ein flaues Gefühl in der Magengegend. Er verließ den Hofgarten und trat auf die breite Trasse, die die Parkanlage vom Schloss trennte. Sofort wurde sein Blick auf ein weißes Haus neben dem Schloss gelenkt, eine Eisdiele. Etwas Schlimmes war geschehen: Eine große Frontscheibe der Eisdiele war geborsten. Die Splitter lagen verteilt über das Heck eines aschgrauen Opel Kadett.
Paul beeilte sich dichter heran zu kommen. Sonntagsausflügler, Paare und einzelne Fußgänger mit ihren Hunden taten es ihm gleich. Noch während er sich fragte, was vorgefallen war, rundete sich das Bild im Näherkommen mehr und mehr ab: Der Opel war offenbar auf dem regennassen Pflaster ins Schleudern geraten und in die Eisdiele gerast.
Paul wurde von den Geschehnissen angezogen und drängte sich weiter nach vorn. Auf dem Bürgersteig vor dem Laden sah er einen einzelnen Reifen – ein komplettes Rad mit Felge.
Er mischte sich unter die Schaulustigen in der ersten Reihe – und erstarrte vor Schreck: In dem Cafe herrschte ein heilloses Durcheinander. Gastraum und Theke waren schwer in Mitleidenschaft gezogen. Überall lagen zerborstenes Mobiliar und Scherben. Paul nahm einen scharfen Geruch wahr – eine unheilvolle Mischung aus Benzin, Blut und Angstschweiß.
Es gab mehrere Verletzte. Ein Mann im weißen Kittel, wohl ein Angestellter der Eisdiele, lief völlig verwirrt durch das verwüstete Lokal. Sein rechter Arm war von Schnitten übersät. In einer Ecke neben einem umgefallenen Tisch
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