Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
hockte eine Mutter weinend neben ihrem Kind, das apathisch vor sich hinstarrte. Eine jüngere Frau, die an beiden Knien blutete, ging auf die Umstehenden zu und rief mit sich überschlagender Stimme nach einem Arzt.
Am Schlimmsten war es um den Fahrer bestellt. Paul hielt sich voller Entsetzen die Hand vor den Mund, als er ihn im Näherkommen erkannte: Über das Lenkrad gebeugt und aus einer klaffenden Stirnwunde blutend saß Franz Henlein!
Zwar hörte Paul aus der Ferne die ersten Martinshörner. Doch hier und jetzt rührte sich niemand. Ein Dutzend Passanten und die unversehrt gebliebenen Bedienungen des Eiscafes standen ratlos oder geschockt herum und gafften. Lediglich eine ältere Dame machte Anstalten, die Frau mit den verletzten Beinen zu trösten.
Paul verschaffte sich Platz und arbeitete sich bis zu dem Unfallwagen vor. Er riss die Tür auf, löste Henleins Gurt und zog den erschlafften Körper aus dem Wagen.
»Henlein!«, schrie er, während er sich daran zu erinnern versuchte, wie die stabile Seitenlage aussah und ob es sinnvoll war, sie in dieser konkreten Situation anzuwenden. »Henlein! Was ist passiert? Wo haben Sie Schmerzen?«
Henlein röchelte kraftlos. Seine Augenlider hoben sich für kurze Momente und ließen Paul in zwei schwach glimmende Pupillen blicken.
»Wie konnte das geschehen?«, fragte Paul noch einmal eindringlich und mühte sich damit ab, Henleins Kopf möglichst vorsichtig in seiner Armbeuge abzustützen.
Die Wunde auf Henleins Stirn blutete stark. Das Röcheln wurde jetzt schneller – Henlein hechelte nach Luft. Dann tastete er mit der Rechten nach seiner Brust.
Paul deutete die Geste als ein Suchen und führte Henleins Hand. Als sie die Halskette zu fassen bekam, wurde Henleins Griff fester, um das Medaillon herauszuziehen.
Paul half ihm damit, es offen zu legen, so dass Henlein seine Hand um den Kettenanhänger schließen konnte. Dann öffnete Henlein noch einmal seine Augen. Seine Mundwinkel umspielte ein zufriedenes Lächeln. Henlein atmete tief ein. Danach entspannten sich seine Züge.
Fassungslos starrte Paul den Mann in seinen Armen an. Henlein war jetzt ganz schwer. Das Röcheln war nicht mehr zu hören. Er hatte aufgehört zu leben.
7
Paul blickte auf, sah in die sensationslüsternen Gesichter der Umstehenden. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte sie alle verjagt. War es nicht würdelos, einem Menschen beim Sterben zuzusehen, ohne wenigstens den Versuch unternommen zu haben, ihm zu helfen?
Stattdessen ließ Paul den Kopf des toten Henlein langsam auf den Boden sinken. Dann erhob er sich.
Die Rettungsfahrzeuge hatten ihr Ziel erreicht. Die Umstehenden wandten sich der anrückenden Feuerwehr zu und begannen sehr zögerlich eine Schneise für die Rettungskräfte zu bilden.
Paul hielt Ausschau nach dem Einsatzleiter oder einem Notarzt, um ihm von seinem gescheiterten Erste-Hilfe-Versuch zu berichten. Doch zwischen all den Uniformen konnte er nicht erkennen, wen er ansprechen musste.
Unversehens fühlte Paul eine unerwartete Berührung: Eine graue Wolldecke wurde ihm über die Schulter gelegt. Ehe Paul etwas sagen konnte, hob ein Sanitäter einen umgefallenen Stuhl auf und setzte Paul mit sanftem Druck darauf. Erst jetzt sah Paul das Blut an seinen Händen – Henleins Blut. Der Sanitäter musste Paul für eines der Opfer gehalten haben.
Um Paul herum bestimmte jetzt der organisierte Rettungsapparat das Geschehen. Die Schaulustigen waren binnen weniger Minuten aus dem Lokal geleitet worden. Während die Polizei die Zuwege absicherte, brachten mehrere Feuerwehrleute furchteinflößende Spreizscheren und Hydraulikschneider an dem Autowrack an. Womöglich vermuteten sie weitere Insassen in dem Opel, mutmaßte Paul, der das hektische Treiben um sich herum wie durch einen Schleier wahrnahm.
Die Sanitäter waren nicht dazu gekommen, sich noch einmal mit ihm zu befassen. Der verletzte Kellner, die blutende Frau und das geschockte Kind nahmen sie voll und ganz in Beschlag. Von draußen drang das dumpfe Schlagen der Rotorblätter eines Rettungshubschraubers in den Raum.
Paul atmete tief durch. Als Fotograf, der viel für Tageszeitungen unterwegs war, war er öfters zu schweren Verkehrsunfällen geschickt worden, als ihm lieb war. Auch den Anblick von Toten hatte er in all den Jahren zu verkraften gelernt. Doch was er heute erlebte, war etwas anderes. Ein Mensch hatte in seinen Armen sein Leben ausgehaucht. Paul hatte Henlein kaum gekannt, doch das spielte keine
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